Leseprobe B1

Ende und Anfang

Die Geschichte begann am Montag, dem 15. Oktober, im Kleistgymnasium in Neustadt. Der ohnehin immer sehr nervöse Lehrer Klose sprang aufgeregt vom Stuhl hinter dem Lehrertisch auf, fuchtelte mit einer, der gerade von ihm eingesammelten Mathe-Klassenarbeiten der 9b, in der Luft herum und rief: „Halt! Niemand verlässt den Raum!“, da klingelte es auch schon zur Pause. Sofort wiederholte der nicht mehr ganz junge Mann mit bereits angegrauten Haaren seine Forderung, „alle bleiben sitzen! Mein Fünfzigeuroschein ist verschwunden. Kurz bevor ich die Klausurhefte eingesammelt habe, hatte ich ihn noch in der Hand und habe ihn wahrscheinlich dann auf dem Pult liegen lassen. Hat einer von euch den Geldschein vielleicht ausversehen an sich genommen?“ „Oder eine“, warf eine krächzende, wahrscheinlich noch im Stimmbruch befindliche Jungenstimme ein. „Wie kommst du darauf, Eduard?“ Der Lehrer, er war der Einzige, der den Schüler Ceh mit dem richtigen Vornamen ansprach, alle anderen sagten Ede, ging hoffnungsvoll den Gang zwischen den Bankreihen entlang auf den Zwischenrufer zu. „Na, die Faber, Herr Klose“, der Junge sprang auf und zeigte mit dem Finger auf ein zierliches Mädchen hinter ihm, „die hat’s nötig. Die Mutter versäuft doch das ganze Geld.“ „Na, na, so nicht Herr Ceh. Hier wird niemand beleidigt. Außerdem glaube ich das nicht.“ Der mit einem Meter siebzig schon recht große, vierzehnjährige Junge ließ sich grinsend auf seinen Platz fallen. Ede Ceh war nicht dumm, aber ziemlich faul, unausgeglichen und manchmal aggressiv. Die rötlich-blonden, halblangen wuscheligen Haare gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Verbunden mit der sportlich-robusten Gestalt, dem auffällig breiten Gesicht und seiner vorlauten Art konnte er viele seiner Klassenkameraden einschüchtern. Das war wohl unbewusst eine Art von seinen eigentlichen Problemen abzulenken. „Aber Ede hat doch recht“, warf nun auch noch die hübsche Edith ein, „die Faber braucht doch jeden Cent“, sie rieb demonstrativ Daumen und Zeigefinger gegeneinander, „vielleicht haben sie den Schein ja fallen lassen, Herr Klose und die“, das blondlockige, wie ein kleiner Superstar gestyte und deshalb bereits wie achtzehnjährig aussehende Mädchen deutete mit dem Finger auf Lena, „hat ihn vom Boden aufgehoben und eingesteckt?“ Alle Schüler, Mädchen und Jungen, auch der Lehrer, sahen zu Edith und dann zu Lena Faber. Die lief rot an, aber sie brachte keinen Laut zu ihrer Verteidigung heraus. „Lena war das auf keinen Fall!“, ein schlanker Junge mit sehr kurz geschnittenen Haaren erhob sich von seiner Bank. „Woher willst du denn das wissen, Prost“, krächzte Ede Ceh. Der mit Prost angesprochene, einen Meter und sechsundsechzig Zentimeter große Schüler fiel unter seinen Klassenkameraden kaum auf. Aber er war ein aufmerksamer Beobachter, ziemlich klug und konnte logisch denken. Prost war mit der Matheklausur gut zurechtgekommen, hatte deshalb Zeit gehabt sich ein wenig umzusehen und dabei bemerkt, dass der Lehrer im Unterbewusstsein mit einem Geldschein zwischen den Fingern spielte, während er die Schüler scharf beobachtete, um Betrugsversuche sofort zu entdecken und unterbinden zu können. „Herr Klose darf ich mal nach vorn zu ihrem Tisch gehen?“ Der Lehrer sah überrascht auf den stehenden Schüler. „Ich verstehe nicht. – Warum? – Na ja, wenn du meinst, Jan.“ Prost spazierte nach vorn. Ein Raunen ging durch die Reihen der Schüler, als der Junge sich auch noch auf den Stuhl des Lehrers setzte. „Bitte können sie hierher kommen, Herr Klose?“ Langsam schritt der Mann wieder nach vorn, um den Tisch herum und stellte sich hinter den auf seinem Stuhl sitzenden Jungen. „Sehen Sie?“ Prost zeigte mit der Hand auf die Tischkante. Aus irgendeinem Grund besaß dieser Tisch im Gegensatz zu denen in den anderen Klassenräumen eine doppelte Tischplatte. Vielleicht konnte man ihn ja sogar ausziehen, wozu auch immer das hier in einer Klasse gut sein sollte. Klose starrte auf die Ritze zwischen den beiden Platten und sah rechts außen eine kleine Ecke Papier herausragen. „Ist das etwa …“, murmelte Klose verständnislos, griff mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Zipfel und zog seinen vermissten Fünfzigeuroschein zwischen den Platten heraus. Das ohnehin immer leicht gerötete Gesicht des Lehrers Klose lief dunkelrot an. „Woher wusstest du … das darf doch nicht … Es tut mir leid Frau Faber, ehm, Lena, ich … Wegtreten zur Pause!“ schnarrte des Lehrers Stimme verzweifelt, aber auch erleichtert und sofort sprangen die Schüler auf und verließen geräuschvoll das Klassenzimmer.

Bereits am nächsten Tag hatte die 9b wieder Mathe bei Klose. „Also, meine Damen und Herren, ein Bein habt ihr euch bei der Klausur wahrlich nicht ausgerissen“, schmetterte der Lehrer mit leicht gerötetem Gesicht den Mädchen und Jungen der Klasse 9b beim Betreten des Raumes entgegen. Die Panne von gestern schien er vollkommen vergessen zu haben. Er warf mit Schwung einen Haufen Hefte auf den Lehrertisch, sodass sie über die Platte rutschten und deren gesamte Fläche bedeckten. Keins von ihnen fiel auf den Boden. Klose sprach genüsslich weiter, „nur drei Einser, aber fünf Fünfer und sieben Vierer. Dann wollen wir mal jetzt die Klassenarbeit in der klassischen Reihenfolge zurückgeben“. Die Vierer und Fünfer besaßen besondere Bedeutung, weil sie die Versetzung gefährden konnten. „Wie immer kommen natürlich die Schlechtesten zuerst. Ceh, was meinst du, wann du dran kommst?“ „Natürlich als Erster Herr Lehrer“, antwortete Ede, als hätte er den ersten Platz in einem Wettbewerb belegt. „Stimmt“, sagte Klose, „null Punkte, Note Fünf“ und er schmiss das Heft auf dessen Bank. Einige Klassenkameraden lachten, weil sie Cehs Ruhe bewunderten, denn schlechte Noten sorgten zu Hause doch immer für Ärger, vor dem sich eigentlich jedes andere Kind fürchtete, – außer Ceh – scheinbar. Klose griff zum nächsten Heft, drehte seinen Kopf in Richtung Bankreihe der Mädchen. „Edith, es hat wieder nicht geklappt, aber immerhin drei Punkte, was leider auch nur die Note Fünf ergibt.“ Klose stand auf, ging bis zu Ediths Bank, die mit rotem Kopf beschämt nach unten sah und legte ihr das Heft langsam auf den Tisch. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, aber mit Mathe hatte sie absolut nichts im Sinn. Beim Griff zum nächsten Heft veränderte sich der Gesichtsausdruck von Lehrer Klose erneut. Dieses Mal erschien ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht und dann sagte er kopfschüttelnd, „Rolf Filius, wie hast du das denn gemacht?“ Klose ging zur Bank des Angesprochenen, „sonst schaffst du doch wenigstens immer eine Drei, aber heute ist es eine dicke Fünf“, hielt das Heft waagerecht über dessen Bank, ließ es fallen, sodass es mit einem lauten Klatsch auf dem Tisch landete. Der Lehrer schüttelte seinen Kopf, „mein lieber Jolly, da wird sich dein Vater aber freuen.“ Er sah nicht mehr, wie sich die Augen des Jungen mit Tränen füllten. Klose setzte gemütlich das Spielchen fort mit den Vieren, den Dreien, den Zweien und den Einsen. Als er die letzten Hefte verteilt hatte, unter denen sich auch Faber und Prost befunden hatten, blieb er plötzlich stehen. „Was stinkt denn hier so, Kinder? Das ist ja nicht zum Aushalten.“ Der Mathelehrer Klose ging die Nase rümpfend durch die Bankreihen der neunten Klasse am Kleistgymnasium in Halle-Neustadt. „Vielleicht ist ja irgendjemand in Hundescheiße getreten?“, bemerkte Ede Ceh krächzend. „Ja, das ist möglich, Eduard. Kontrolliert alle mal eure Schuhe, Kinder.“ „Das kann dann eigentlich nur der Prost sein“, krächzte Ceh hämisch grinsend, „der kommt doch vom Dorf.“ Der angesprochene Junge wollte sich gerade zur Wehr setzten, als er merkte, dass sich tatsächlich irgendetwas unter seinem rechten Schuh befand. Er drehte seinen Fuß zur Seite und da sah er die Bescherung: Tatsächlich klebte Hundescheiße im Profil der Sohle seiner Sportschuhe. Deshalb hatte es also bereits im Bus so gestunken. „Verdammter Mist“, murmelte Prost mit verkniffenem Gesicht und stand auf. Alle sahen zu ihm, die meisten grinsten und einige lachten auch. Der Lehrer erkannte dieses Mal schnell die peinliche Situation. „Ja, ja, geh raus, Jan, mach deine Schuhe draußen sauber und komm dann wieder rein.“ Ein kleines, unscheinbares Mädchen mit ziemlich kurz geschnittenen Haaren, die in der Bank hinter Ede Ceh saß, sprang auf. „Darf ich mitgehen, Herr Klose?“ Der Lehrer zögerte einen Moment, sagte dann aber schnell, „na klar, Lena, Mädchen sind beim Saubermachen bestimmt geschickter.“ Die Kleine eilte Prost hinterher, der die Klasse schon verlassen hatte. Auf dem Flur holte sie ihn ein. „Gestern hast du mir geholfen.“ Zusammen gingen sie auf den Schulhof. Jan setzte sich auf eine Bank, zog seinen rechten Schuh aus, holte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und wollte gerade mit der Reinigung beginnen, als die zierliche Lena ihm den Schuh aus der Hand nahm. „Du versaust dir doch dein schönes Messer, Jan. Außerdem weiß ich“, sie lächelte schelmisch, sodass von ihrem Gesicht ein warmer Strahl auf den Jungen fiel, „dass du damit auch einen Apfel abschälst oder ein Brötchen aufschneidest.“ „Na und? Ich wische es dann ja vorher ab.“ Kopfschüttelnd drehte sich das Mädchen um. „Ich suche mir einen Stock und gehe darüber“, sie zeigte in Richtung Schulzaun, „zum Gras. Du kannst hier sitzen bleiben.“ Lena hantierte geschickt und schnell. Prost beobachtete interessiert das Mädchen, das erst Anfang September in seine Klasse gekommen war. Obwohl Mutter und Tochter es vermeiden wollten, sprach es sich schnell herum, dass Lenas seit zwei Jahren alleinstehende Mutter eine Trinkerin war. Die attraktive Frau konnte es einfach nicht verkraften, dass ihr Mann sie wegen einer anderen verlassen hatte. Die Arbeit als Verkäuferin, die sie aufgenommen hatte, um von der Trinkerei wegzukommen, gab sie schnell wieder auf und fing als Kellnerin in der Gasstätte ‚Zur alten Ziegelei‘ an. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter kehrte sich um. Lena kümmerte sich aufopferungsvoll um die oft hilflos wirkende Frau, die keine Kraft fand, sich vom Alkohol zu befreien. Das schlanke, zierliche, immer ernst und vielleicht deshalb etwas herb wirkende Mädchen hätte mit ihrem schon stark ausgeprägten Busen alle Mädchen der Klasse in die Flucht schlagen können, aber sie tat das Gegenteil, sie versteckte ihre Brüste in legerer, einfacher und unauffälliger Kleidung. Die kurz geschnittenen dunklen Haare verstärkten diesen Effekt. Lenas bescheidenes und stilles Auftreten hatte Jan von Anfang an gefallen. Obwohl sie scheinbar klug war, drängelte sie sich nie in den Vordergrund. Vielleicht ging es ihr ja genauso mit ihm. Durch die beiden letzten Ereignisse sah es so aus, als ob sie sich miteinander ein wenig anfreunden könnten. Als Lena vorhin lächelte, war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass sie ein sehr hübsches Gesicht besaß. Ihr Aussehen hatte ihn bisher gar nicht interessiert, trotzdem empfand er diese Feststellung als angenehm. Schon nach ein paar Minuten war das Mädchen mit der Reinigung des Schuhs fertig und brachte ihn zurück zu Jan. „Ich habe gar nicht gewusst, dass Hundescheiße so stinken kann.“ „Danke, Lena, aber das hätte ich auch allein gekonnt.“ Prost zog seinen Schuh wieder an und stand auf. Es klingelte zur Pause, sodass sie sich mit der Rückkehr in die Klasse auch nicht beeilen brauchten. Als Erstes kamen die Mädchen auf den Schulhof gestürzt. Drei von ihnen, die sich für die Hübschesten hielten und zu denen auch Edith gehörte, die sich von der schlechten Note scheinbar schon wieder erholt hatte, lästerten mit Hingabe und betonten mit besonderem Genuss das Wort Scheiße. „Seht doch mal, Leute, die Hundescheißeliebe.“ „Die zwei hält die Scheiße zusammen.“ „Vielleicht klebt Scheiße ja besser, als Küsse?“ Dann kamen die Jungen angestürmt. Die meisten interessierten sich gar nicht für die zwei. Sie spielten mit einem Stein Fußball. Nur Ede Ceh kam auf Prost zu. „Na, habt ihr den Gestank im Schnaps ersäuft?“ Jan legte Lena eine Hand auf die Schulter, drehte sich mit ihr zur Seite, um dem Störenfried aus dem Weg zu gehen, doch der griff Prost derb am Oberarm. „Bleib hier, du feiger Sack. Die Mutter deiner Freundin säuft, das weiß doch hier jeder.“ Prost ließ das Mädchen los, drehte sich spontan um, wischte den Arm des etwas größeren Jungen von seiner Schulter. „Hau ab, Ceh, sonst hetz ich meinen Hund auf dich!“ Diese Antwort verwirrte den anderen für einen Moment, denn es war ja gar kein Hund da. Ede sah im wahrsten Sinne des Wortes dumm aus der Wäsche, doch dann brüllte er um so lauter, „die Tochter einer saufenden Hure! Die Schlampe passt zu dir, du Wichser!“ Prost wollte den anderen am Schlafittchen fassen, verpasste seinem Widersacher dadurch einen solchen Stoß, dass der Junge sich auf den Hintern setzte. Jan versuchte sich auf ihn zu stürzen, doch bevor er dazu kam, sprang schnell und geschickt wie ein Wiesel Lena dazwischen. Zum Glück eilte jetzt auch der verantwortliche Lehrer für die Hofaufsicht hinzu und rief schon von Weitem, „auseinander! Auseinander! Was ist hier los?“ „Nichts Besonderes, Herr Klose“, antwortete Lena lächelnd mit leichter Stimme, als wäre gar nichts vorgefallen, „wir üben nur ein wenig Hundeerziehung“, sie zeigte auf den immer noch auf der Erde sitzenden Jungen, „das war gerade das Kommando: Sitz!“ Prost reichte Ceh seine Hand entgegen, „komm zu Herrchen, Bello!“ Mit verkniffenem Gesicht ergriff der Junge die Hand, ließ sich hochziehen, trat dicht an den anderen heran und zischte ihm ins Ohr, „fass! Darauf kannst du warten, Prost!“, ließ dessen Hand los und entfernte sich in Richtung Schulhofzaun. Jan sah noch, wie er mit den hübschen, aber arroganten Mädchen Siggi Schabow und Ina Tatus sprach. In der nächsten Stunde hatten sie Biologie.

„Der hat doch nicht mal ein Haar auf der Brust“, flüsterte Siggi Schabow abfällig, sich ein wenig nach rechts zu ihrer Banknachbarin Ina Tatus drehend. „Na und“, antwortete sie lässig und genauso leise, aber für die Jungen in der Reihe dahinter doch gut zu verstehen, „ich finde den Kleinen süß, du nicht Knorpel?“ Die Erwähnung ihres Spitznamens brachte das Mädchen erst recht in Fahrt. „Quatsch süß“, schnaufte sie nun, „der, der – gehört doch noch zum C.d.U.“ und weil Ina nur lachte, fügte Knorpel herausfordernd hinzu, „das kann ich dem auch gerne schriftlich geben.“ Wieder lachte Ina leise und stichelte, „das traust du dich ja doch nicht.“ Die beiden saßen in der ersten Reihe der Klasse 9 b. Es lief der Biologieunterricht bei Bauermann und wie immer war der furchtbar langweilig, weil der Lehrer, wie ein Universitätsprofessor, zu viel selbst vortrug. Die Folge war, dass nur noch wenige Schüler zuhörten. Jan Prost, der in der zweiten Bank hinter den beiden schwatzenden Mädchen saß, ließ sich von deren Gerede ablenken, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden über ihn sprachen. Plötzlich drehte die eine sich zu ihm um und zischelte, „gib mir mal dein Hausaufgabenheft, Knäblein.“ Prost kannte die Mädchen von gemeinsamen Auftritten mit dem Blasorchester. Trotzdem hatte er bisher kaum Kontakt zu ihnen gefunden, weil die sich nur für ältere Jungen interessierten. Die plötzliche Anrede durch den hübschen, schwarzhaarigen Lockenkopf, überraschte Jan und er schob verlegen sein Heft nach vorn. Knorpel drehte sich noch etwas weiter um und schrieb mit einem Kuli in fetter, blauer Schrift auf den grün-durchsichtigen Plastikumschlag: ‚Ich gehöre zum C.d.U.’. Prost schüttelte seinen Kopf, „was soll das denn bedeuten?“ Jetzt kicherten die beiden erst recht und nun drehte sich Ina um, griff ihrerseits das Hausaufgabenheft und schrieb mit einem anderen Kuli in schwarzer Schrift: ‚Ich weiß nicht, was das heißt!’ „So ein Blödsinn“, ärgerte sich Jan, aber die beiden setzten ihr Spielchen fort. Sie schrieben weitere Worte auf den Umschlag, drehten das Heft um und beschrieben auch noch die andere Seite. Plötzlich sagte Bauermann, „Jan, können Sie einmal kurz wiederholen, was ich eben erzählt habe?“ Die beiden Mädchen drehten sich schnell, aber immer noch kichernd, wieder nach vorn. Prost stand verdattert auf. Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn er hatte keine Ahnung, wovon der Lehrer gesprochen hatte, also schwieg er. Bauermann wartete noch einen Moment. Jetzt genoss er die Aufmerksamkeit aller Schüler. Dann sagte er mit gelassener Stimme, „ist ja interessant, der Herr Jan Prost interessiert sich nicht für den Geschlechtsverkehr.“ Ohrenbetäubender Lärm brauste auf, die Schüler lachten, klopften sich auf die Schenkel, einige trampelten mit den Füßen auf den Boden. Es hätte nicht viel gefehlt und die temperamentvollsten wären auf die Tische gesprungen. Das Läuten der Pausenglocke verhinderte das und rettete den zur Salzsäule erstarrten Schüler Prost. In der Pause kam Lena auf ihn zu. „Mach dir nichts draus, Jan, du bleibst für mich ein Freund. Aber warum lässt du dich von den dummen, casting-geilen Zicken so veralbern?“ „Die dämlichen Weiber hat der Ceh auf mich angesetzt.“ „Na, dann ist ihm eine gewisse Rache ja geglückt. Soviel Einfluss auf die beiden hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“ „Sag mal, Lena, weißt du, was die Abkürzung C.d.U. bedeutet? Hat das was mit der Partei zu tun?“ Die Faber lachte kurz auf, beherrschte sich aber schnell wieder. „Entschuldige, Jan, für mich spricht es für dich, dass du das nicht weißt. Es heißt Club der Ungeküssten.“ Die Schulklingel beendete die Pause. Noch eine Stunde mussten Prost und die Faber heute in der Schule überstehen.

An diesem Tag stieg Jan nach Schulschluss, wie in den letzten Tagen auch, mit ungutem Gefühl in den Bus. Vor fünf Monaten war seine Mutter an Krebs erkrankt. Sie hatte einen Tumor im Kopf. Nach zwei Operationen sahen die Ärzte keine Hoffnung mehr und rieten von einem weiteren Eingriff ab. Für Vater und Sohn war damit klar, dass die Mutter in ein paar Tagen oder Wochen sterben musste. Was würde Jan heute erwarten?

Der Junge schloss die Haustür zu dem kleinen Reihenhäuschen auf, das im idyllischen, nur zehn Kilometer von Halle entfernten Salzatal lag, ging in den Flur hinein, bemerkte den ihm entgegenkommenden Vater und sah ihm ins Gesicht. „Ist – Mutter – tot?“ Der einen Meter achtzig große Vater nahm den Kopf seines vierten Sohnes, einem Nachzügler der Familie Prost, denn es gab bereits drei inzwischen schon erwachsene und nicht mehr im Elternhaus lebende Brüder, in die Arme und drückte ihn an sich. „Ja, Jan. – Sie ist in meinen Armen eingeschlafen. – Für sie war der Tod eine Erlösung. – Daran solltest du jetzt in erster Linie denken.“ Der Vater schob den Jungen etwas von sich weg, ohne ihn loszulassen. Er sah Tränen in den Augen des Halbwüchsigen und zog ihn wieder an seine Brust. „Du hast doch gesehen, wie Mama unter den Schmerzen litt. Das ist nun vorbei. Im Leben liegen Gutes und Schlechtes immer dicht nebeneinander.“ Vor einer knappen Stunde war die Frau ihrer Krebskrankheit erlegen. Mit Schaudern dachte Jan daran, dass die tote Mutter noch im Schlafzimmer der Eltern in der ersten Etage lag. Trotzdem fragte er jetzt, „darf ich Mama noch einmal sehen?“ Der Vater sah seinen Sohn überrascht an, „natürlich, wenn du das willst, Jan“ und, weil der Junge nun doch zögerte, fügte er hinzu, „ich komme mit.“ Beide stiegen sie die Stufen nach oben. An der Tür blieb Jan stehen, sah von Weitem das blasse Gesicht seiner Mutter und stellte mit Erstaunen fest, dass ihr Gesichtsausdruck völlig entspannt war, ja, dass sie sogar zu lächeln schien, aber vielleicht kam Jan das auch nur so vor, weil er ein viel unschöneres Bild erwartet hatte. Der Junge trat dichter an das Bett heran, fühlte den Vater nahe hinter sich, streckte den rechten Arm aus und streifte damit das Gesicht der Mutter. Schweigend drehte er sich wieder um, sah seinem Vater kurz in die Augen, verließ das Zimmer und ging die Treppen hinunter, während der Mann noch einen kurzen Moment bei der Toten verweilte.

Nur ein paar Stunden später wurde die Tote von einem Beerdigungsinstitut abgeholt. Vater und Sohn saßen nach einem kleinen Abendessen, beide hatten nur ein paar Bissen zu sich genommen, zusammen im Wohnzimmer, wo um diese Zeit sonst immer der Fernseher lief. Heute herrschte Ruhe. Auch das Radio schwieg. Der Mann hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, aber er las nicht, sondern sah nachdenklich zu seinem Jungen hinüber, der nur stumm auf den Teppich starrte. Vielleicht sollte er Jan sagen, dass er den Fernsehapparat trotzdem anknipsen konnte, wenn er das wolle, aber er brachte diesen Satz nicht über die Lippen. Stattdessen fragte er, „was hattest du heute für Fächer in der Schule?“ Der Junge hob den Kopf und sah fast erleichtert zum Vater. „Zwei Stunden Mathe, Deutsch, Englisch, Chemie, Bio und Erdkunde.“ „Was behandelt ihr in Bio?“ „Sexualität.“ Der Sohn schwieg nach der kurzen Antwort wieder. Doch dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig, „ihr habt mir das Wichtigste viel einfacher“, jetzt tauchte sogar ein Lächeln in seinem Gesicht auf, „und praktischer erklärt – Mutter – und du.“ Bei dem Wort Mutter fuhr beiden der Schmerz erneut ins Herz und in die Augen des Jungen traten wieder Tränen. Dieses Aufklärungsgespräch lag erst ein halbes Jahr zurück. Damals ahnten sie noch nichts von dem Leid, dass sie schon eine Woche später ereilen sollte.

Der Vater steckte seinen Kopf durch die Tür in das Zimmer seines Sohnes. „Mutter und ich denken, dass es Zeit ist, mit dir über Sex zu sprechen, Jan. Möchtest du das?“ Der Junge sah vom Bildschirm seines Computers zur Tür. „Gleich Vater, ich muss nur noch die Kuh zu Ende melken.“ „Was denn, Jan, hat dein Bauernhof keine Melkmaschine?“ „Das schon, aber mit dem neuen Programm des Landwirtschaftssimulators kann ich auch historische Vorgänge nachvollziehen. So wie du sie mir aus deiner Kindheit erzählt hast.“ Der Vater lachte, „manchmal haben die Softwarehersteller auch richtig gute Ideen. Also, du kommst dann?“ „Ja, in fünf Minuten.“ Nur wenig später stürmte Jan ins Wohnzimmer, warf sich in einen Sessel und sah auffordernd zu Mutter und Vater, die nebeneinander auf dem Sofa saßen. „Wir haben uns ja schon einmal vor etwa zwei Jahren über das Thema der Geschlechter unterhalten, du erinnerst dich, Jan?“ „Na klar, als meine Schulkameraden manchmal etwas verworren darüber gesprochen haben, wusste ich schon Bescheid.“ „Gut. Inzwischen bist du mit großen Schritten unterwegs auf dem Weg ein Mann zu werden. Neben der reinen Biologie, zum Beispiel die Erektion, also das Wachsen und Steifwerden des männlichen Gliedes oder auch die Regelblutung der Frau, die in dieser Zeit einen Geschlechtsverkehr unmöglich macht, gibt es noch ein weites Feld zwischenmenschlicher Verhaltensweisen, die nur im Zusammenhang mit dem Geschlechtstrieb und emotionalen Gefühlen zwischen den Menschen erklärbar sind und für den Einzelnen sehr unterschiedlich sein können.“ „Manches dabei erscheint wie ein Wunder“, die Frau sah von ihrem Mann zum Sohn, „unter Tausenden von Menschen finden zwei zusammen, die etwas Besonderes, Einmaliges füreinander empfinden und das passiert millionenfach auf der Welt. Ist das nicht tatsächlich ein Wunder?“ „Na ja, Mutter, wenn etwas alle machen, dann ist es doch eigentlich nichts Besonderes mehr. Also ist Liebe nichts Besonderes und trotzdem ein Wunder?“ Die Mutter lehnte sich lächelnd auf dem Sofa zurück und schwieg. „Ja, zur sexuellen Liebe zwischen zwei Menschen sind alle fähig, insofern ist sie nichts Besonderes und schon gar kein Wunder, Jan, aber sie durch die Stürme des Lebens zu tragen und zu bewahren, das ist eine große individuelle Leistung, die für jeden eine große Herausforderung darstellt, der nicht alle gewachsen sind.“ „Und an deren Anfang doch das kleine Wunder der Liebe stehen sollte“, ergänzte die Mutter lächelnd. „Du sprichst immer von zwei Menschen, Vater, du meinst doch das Verhältnis zwischen Mann und Frau?“ „Du kennst das Wort: ‚Ausnahmen bestätigen die Regel‘? So ist es auch hier. Es gibt ebenso Liebe nur zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Ein Ansatz dazu ist in jedem von uns mehr oder weniger vorhanden. Das hängt mit dem Entwicklungsprozess der Menschheit zusammen. Es ist eine Ausnahme in der Natur, aber kein Teufelswerk.“ „Soll das heißen, dass ich auch ein Homo werden könnte, Vater?“ „Das ist unwahrscheinlich, aber auch nicht ganz auszuschließen. Die Statistik sagt, dass etwa 1,6 % der Männer homosexuell sind. Es ist im Leben immer wichtig, sich gut im Auge zu haben und ehrlich zu sich selbst zu sein. Früher haben Dogmen die Menschen zu falschem Verhalten gezwungen, wie es heute die Religionen zum Teil immer noch tun.“ Die Mutter sah von ihrem Mann zum Sohn, „mir hat Vater, also dein Vater, Jan, auch sehr geholfen die richtige Einstellung zum Sex zu bekommen, denn im Verkehr zwischen Mann und Frau muss man auch sehr flexibel und erfinderisch sein. Mit irgendwelchen lesbischen Anwandlungen hatte ich allerdings nichts zu tun.“ „Interessanterweise ist es so, dass man bei Frauen eher lesbisches Verhalten zu sehen glaubt, aber trotzdem gibt es nur halb so viele homosexuelle Frauen, also Lesben, im Vergleich zu den Männern.“ „Was meinst du damit, man muss beim Sex erfinderisch sein, Mutter?“ „Ich habe früher geglaubt, dass es nur eine Stellung für eine Vereinigung zwischen Mann und Frau gibt, inzwischen kenne ich zehn und die habe ich von deinem Vater gelernt.“ „Das wichtigste beim Sex ist, dass beide Partner wirklich dasselbe wollen. Man muss also auch darüber reden. Auf keinen Fall darf man den Partner zu irgendeiner sexuellen Handlung zwingen.“ „Das verstehe ich. – Aber mal etwas ganz anderes. Mich hat vor zwei Tagen ein Junge aus der Parallelklasse, weil er sich über mich geärgert hat, als Wichser bezeichnet …“ „Wer war das, Jan?“ fragte die Mutter sofort besorgt, aber der Vater winkte nur ab und wandte sich seinem Sohn zu, „du willst dazu etwas fragen?“ „Ja, ich habe das Wort auch schon oft im Fernsehen gehört. Wieso ist das ein Schimpfwort?“ „Ja, das ist eigentlich fast ein Phänomen, denn jeder Mann tut es, auch die, die das Wort als Schimpfwort benutzen. Ein Wichser ist ein Mann, der sich selbst mit der Hand durch schnelles hin und her bewegen der Vorhaut einen Samenerguss verschafft, also sich selbst befriedigt. Das ist ein normaler menschlicher Vorgang …“ „… den es genauso auch bei Frauen gibt, obwohl das natürlich etwas anders aussieht …“ „… und wahrscheinlich ist auch hierbei der Mann derjenige, der das häufiger tut als die Frau.“ Vater und Mutter sahen an den roten Wangen ihres Jungen, dass er damit wohl auch schon Bekanntschaft gemacht haben musste. Jan seinerseits hörte gerade diese Worte mit Erleichterung. Mehrmals war er schon nachts aufgewacht und sein Glied war steif gewesen. Er hatte es immer wieder in sein Kissen gedrückt, wodurch sich die Vorhaut ebenso hin und her bewegte und es kam auch zum Samenerguss. Das hatte ihn damals etwas bedrückt, aber nun kannte er ja die Zusammenhänge. „Machst du das auch noch, Vater?“ „Es ist wichtig, sich dem anderen nicht aufzudrängen. Wenn der Druck zu groß wird und der Partner aus irgendeinem Grunde nicht kann, dann mache ich es auch …“ „… aber ich würde dir auch immer helfen und wenn es beim Wichsen, …entschuldige, mein Sohn, vielleicht klingt das zu ordinär …“ „… aber man muss die Dinge immer beim Namen nennen“, setzte der Vater energisch das Thema fort, „und nicht drumherum eiern, wie zum Beispiel mit dem Ausdruck ‚miteinander schlafen‘ für Geschlechtsverkehr. So ein Quatsch! Da treffen die Worte ficken, vögeln, bumsen …“ „… poppen“, warf Jan ein. Mann und Frau lachten leise, denn sie wussten nun, dass ihr Sohn sie verstanden hatte. „Falls es dich interessieren sollte, Jan“, der Mann stand auf, griff sich ein schmales Buch aus dem Regal und reichte es dem Jungen, „das habe ich mit siebzehn und Mutter mit zweiundzwanzig Jahren gelesen. Es ist alt und in der DDR geschrieben und gedruckt, aber es schildert alles Notwendige zum Verhalten zwischen Mann und Frau sehr gut.“ Jan nahm das Buch, las den Titel ‚Das neue Ehebuch‘ (1), schlug es auf und staunte über die umfangreiche Gliederung. „Du wunderst dich, was alles zu diesem Thema gehört?“, fragte die Mutter lächelnd, „ich hatte damals schon ein Kind und war mit Klaas schwanger und trotzdem hat mir das Buch die Welt der Beziehungen zwischen Mann und Frau erst erschlossen.“ „Das klingt interessant, darf ich das Buch lesen?“ Der Junge sah zuerst zur Mutter. „Ja, Jan, mir wäre so manches erspart geblieben, wenn ich das alles früher gewusst hätte.“ „Na klar“, sagte der Vater, „nimm es mit in dein Zimmer, wenn du willst. Ließ es, wenn dir danach ist. Du weißt jetzt auf alle Fälle, dass du uns jederzeit fragen kannst, nicht wahr, Jan?“ „Ja, das weiß ich. Okay danke, ich nehme es mit.“ Der Junge sprang auf, um wieder zu seinem Computer zu eilen. Die Eltern sahen ihm lächelnd hinterher.

Der Vater beeilte sich den Sohn von seinen trüben Gedanken abzulenken, deshalb fragte er schnell, „hast du dich damals eigentlich mit dem Buch beschäftigt?“ „Ja, aber erst zwei Monate später, dann allerdings habe ich es in drei Tagen durchgelesen.“ „Ist es noch in deinem Zimmer?“ „Ja, wenn du willst, kann ich es natürlich wieder hier ins Bücherregal stecken.“ „Okay, lass dir Zeit. Es eilt ja nicht.“ Wieder entstand eine Pause. Der Vater stellte seinem Sohn eine andere Frage, „womit beschäftigt ihr euch in Chemie?“ Fast wie ein Stoßseufzer kam die kurze Antwort: „Stoffe und Kenneigenschaften.“ Wieder trat Stille ein. Dann fragte der Sohn den Vater, „mit welchen Stoffen geht ihr eigentlich in eurer Anlage um?“ Dr. Thomas Prost war seit 1990 Leiter der zu LUNA gehörenden C-V-Anlage. Das große, ehemals volkseigene Kombinat LUNA war 1995 von der französisch-amerikanischen Firma Ouverage de Paille oder kurz OPA Industrial genannt, übernommen worden und der alte Firmenname tauchte nur noch in den Bezeichnungen von Sportvereinen oder in den Gesprächen der älteren OPA Beschäftigten auf. Der Vater freute sich über die Frage seines Sohnes und redete erleichtert los. „Da wären zuerst die Stoffe C und V, die im Namen unserer Anlage vorkommen. C ist das Zwischenprodukt EDC (Cl-CH2-CH2-Cl oder Ethylendichlorid, im Buch nur mit C abgekürzt). Es ist eine Flüssigkeit, deren Siedepunkt bei 83 °C liegt. Der Stoff ist giftig, brennbar und kann in der Luft explosible Dämpfe bilden. C ist schwerer als Wasser und ebenfalls mit diesem nicht mischbar. V steht für das Produkt unserer Fabrik VC (CH2=CHCl oder Vinylchlorid, im Buch mit V abgekürzt). Es ist unter Normalbedingungen, also bei 0 °C und Atmosphärendruck ein Gas, weil es einen Siedepunkt von minus 13,7 °C hat. Es ist giftig, brennbar und explosiv. V ist leichter als Wasser und mit diesem nicht mischbar.“ „Wissen das alle bei euch so genau?“ „Ich denke schon. Na ja, die meisten. Es gibt überall Menschen, denen das Theoretische nicht so liegt, die aber trotzdem fleißig und zuverlässig arbeiten.“ „Du hast giftig und explosiv gesagt. Ist es dann nicht sehr gefährlich bei euch?“ „Nicht, wenn die Anlage mit allen Sicherheitseinrichtungen ausgerüstet ist und wir richtig mit diesen Komponenten umgehen. Zum Beispiel gibt es für den dritten Stoff, das HCl, das quasi als Nebenprodukt in unserem Prozess anfällt, einen fünfzig Meter hohen Sicherheitswaschturm.“ „Wow, warum braucht ihr den?“ „HCl ist ein Gas und bildet weiße Nebel in der Luft, denn es besitzt einen Siedepunkt von minus 85 °C. Es ist ebenfalls giftig und zusammen mit Wasser stark ätzend. Alle Anlagenteile, die HCl enthalten, können über den Waschturm gefahrlos entspannt werden, weil das Gas dort mit Wasser gebunden wird. Restgase werden über einen fünfzig Meter hohen Kamin ins Freie geleitet.“ „Weißt du, Vater, es ist schwierig, sich die Unterschiede der einzelnen Komponenten zu merken. Zahlen allein sind für mich nicht sehr anschaulich.“ „Das ist uns anfangs auch so gegangen, Jan. Einer unserer Anlagenfahrer, der ehemalige Seemann Emil Balla, hat sich deshalb dazu eine witzige Trickstory einfallen lassen. Interessiert dich das?“ „Das verstehe ich gar nicht. Wie soll das gehen? Eine Trickstory über chemische Stoffe?“ „Ja, mein Sohn, stell dir einfach vor: Hier mitten im Zimmer steht ein starker, verwegener Bursche mit wuscheligen roten Haaren mit Namen Ede Ceh (C)“. „Mensch Vater, der geht ja in meine Klasse!“ „Wie meinst du das?“ „Na in meiner Klasse heißt ein Junge Ede, eigentlich Eduard Ceh und der ist rothaarig und ganz schön ruppig.“ Vater Prost lächelte, „na das ist doch wunderbar. Unser Ede gehört in seiner Welt zu den Flüssigkeiten. Er ist aus der Vereinigung des farblosen, aber mit einer Doppelbindung ausgestatteten vollbusigen Weibes Ethy Len (CH2=CH2 oder Ethylen, im Buch nur mit E abgekürzt) und dem giftigen, grün-gelben Kerl Zwei Ce-el (Cl2 oder Chlor im Buch nur mit B abgekürzt) hervorgegangen, die beide zu den Gasen gezählt werden. Diese Stoffe charakterisieren den ersten Teil unserer Anlage, den Bereich C. Im zweiten Teil, dem Bereich V, wird Ede Ceh bei fünfundzwanzig bar und fünfhundert Grad Celsius in die männlichen Vau Ceh (V) und Ha Ce-el (HCL) aufgespalten, wobei Vau Ceh durch seine Doppelbindung im Inneren nicht nur einen weiblichen Tatsch besitzt, sondern auch zwischen Flüssigkeit und Gas hin und her schwankt, während Ha als Gas ein richtig aggressiver und ätzender Lustmolch ist, fast so wie sein Großvater Zwei Ce-el, die beide nur unter Zwang, also hohem Druck und niedriger Temperatur zu einer Flüssigkeit werden.“ Diese bildliche Beschreibung der Hauptkomponenten zauberte ein kleines Lächeln auf das Gesicht des Sohnes. „Hat der Operator die Figuren dann auch handeln lassen, Vater?“ „Hat er, mein Sohn. Weißt du was? Ich könnte dir heute und an zwei oder drei der folgenden Abende immer einen Abschnitt aus der Ede Ceh Story erzählen. Was hältst du davon?“ „Das finde ich prima. Es ist ein guter Ersatz für Fernsehen.“ „Ja, so widmen wir diese Abende der Mutter, aber ohne nur mit traurigen Gesichtern hier herumzusitzen. Das würde sie bestimmt sehr freuen. – Also fangen wir doch gleich an, okay?“ „Na klar, Vater, ich bin bereit.“ „Zuerst ein paar fachliche Vorbemerkungen zum ersten Teil. Die Direktchlorierung (DC) findet drucklos in einem Kreislaufreaktor unter Zusatz des Katalysators Kata F bei circa 100 °C statt. Die chemische Gleichung lautet:

Cl2(B)   +   C2H4 (E) —->   C2H4Cl2 (C),

Die freiwerdende Wärme wird zur Verdampfung des Zwischenproduktes C genutzt, das in Leichtsieder (LS)- und Hochsieder(HS)-Kolonne von Nebenprodukten befreit und im sogenannten Feedtank zwischengelagert wird. Während der Rohstoff Chlor (B) in der Nachbaranlage hergestellt wird, kommt das Ethylen (E) von außerhalb, manchmal auch aus dem Untergrundspeicher, der als Zwischenlager und Puffer dient.

Mein Freund, der immer zu Späßen aufgelegte, aber auch sehr belesene Operator Emil Balla, hat vor mehr als zwanzig Jahren diese Story aus dem Stehgreif bei einer besonderen Schulung kurz vor der Inbetriebnahme unserer Anlage erzählt. Damals begann er mit den Worten des Direktors im ‚Vorspiel auf dem Theater‘ aus Goethes Faust:

‚So schreitet in dem engen Bretterhaus

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,

Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt der Hölle.‘ (2)

„Frei, endlich frei!“, schrie das farblose, aber vollbusige Weib mit der Doppelbindung Ethy Len und stürzte sich aus der dunklen Erdhöhle in die Rohrleitung, wohin auch immer sie diese führen würde. Es ging in rasender Geschwindigkeit vorwärts und Ethy jubilierte, denn das war schöner als Karussell fahren. Nach knapp dreißig Minuten traf Len in der C-V-Anlage ein, wurde an der Druck- und Mengenregelung kräftig durchgeschüttelt und sah sich plötzlich dem von ihr geliebten, von anderen gefürchteten Zwei Ce-el gegenüber. Der kam direkt von der B-Fabrik, wo er sich wegen des hohen Stromflusses in einer Membranzelle von Na (Kochsalz NaCl) getrennt hatte. Ce-el sah gerade noch, wie Na sich zusammen mit Hazwei Oxygen (H2O, Wasser – W) als Lauge davonmachte, da wurde er auch schon weitergetrieben, landete in der B-Trocknung und gelangte anschließend unter Druck über eine Leitung in die C-V-Anlage. Dort lärmte der mörderische, ständig zur Aggression neigende Mann mit dem stechenden Geruch übermütig: „Ich will töten, morden, lynchen, vernichten, ersticken, vergiften, reagieren!“ Doch dann verstummte er überrascht, als er auf die auch ihm gewachsene, ein wenig zickige, aber hoch erotische Ethy Len traf. „Mensch, wie kommst du denn hierher Ethy? Das müssen wir doch gleich feiern!“ Die Len zierte sich, „du weißt genau, Zwei Ce-el, dass ich mich nur mit dir einlasse, wenn Kata F dabei ist.“ „Aber da kommt er ja, der Kata Lysator!“, schrie Ce-el und jetzt juchzte auch die Len, „au fein, nun sind wir ja zu drein – dann können wir uns auch verein.“ Ce-el schüttelte den Kopf, „dass die leichteren Fraktionen immer gleich dichten müssen, wenn gezeugt wird, verstehe ich nicht.“ Aber es hinderte ihn nicht daran sich mit Ethy, die natürlich wahnsinnig stöhnte, innig zu umarmen, während Kata sich zwar auch zwischen sie drängelte, aber dann doch wieder verschwand, als Zwei Ce-el und Ethy Len sich zu Ede Ceh vereinigt hatten. Der starke, verwegene Bursche Ede mit wuscheligen roten Haaren war kaum auf der Welt, da wurde er auch schon mit voller Wucht gegen die Füllkörperschüttung im Reaktor geschleudert. Kaum hatte er sich davon erholt zerrte ihn irgendetwas in eine große Rohrleitung. Dort fuhr er mit dem Laufrad der Kreislaufpumpen Karussell, sah unmittelbar danach bei hoher Geschwindigkeit, wie seine Artgenossen gezeugt wurden und landete wieder an der Füllkörperschicht. Doch das machte ihm nichts mehr aus. Allerdings hatte er nach hundert Mal der gleichen Prozedur die Schnauze voll und drängelte sich etwas weiter nach oben, weil er gesehen hatte, dass von da seine Artgenossen irgendwohin verschwanden. Und richtig, plötzlich wurde er erfasst und im nächsten Moment hatte er das Gefühl, auseinandergerissen zu werden. „Wow, jetzt kann ich ja sogar fliegen“, rief Ede freudig überrascht aus, flog als Gas weiter und kam trotz des vielen Verkehrs gut durch die Destillationskolonne, aber dann traf ihn die Kälte der Wärmetauscher so stark, dass er schnell wieder seine ursprüngliche Form annahm. Nach erneuter Hektik in einer Pumpe landete Ede im Feedtank. „Aah, endlich ausruhen, wer weiß schon, was heute noch alles passiert“, murmelte Ede leise vor sich hin und schwamm ruhig, ab und zu nach links und rechts sehend, im Tank umher. Nun hatte er auch Zeit sich alles etwas genauer zu betrachten. Dabei bemerkte er Artgenossen, die zwar genauso aussahen wie er, aber doch irgendwie anders waren. ‚Wie kam denn das?’, fragte er sich und sagte laut, „he, du, Ede Blue, wo kommst du denn her?“ Der lachte, „das wollte ich dich auch gerade fragen, Ede Green.“ „Direktchlorierung. Und du?“ „Noch nie was von Oxichlorierung gehört?“ „Nee, erzähl doch mal.“ „Na gut, mal sehen, ob ich das alles noch zusammenbringe. Auf alle Fälle trafen sich am Anfang drei: die vollbusige sexy Ethy Len, dazu der aggressive Lustmolch Ha Ce-el und der Luftikus Zwei Oxygen. Natürlich ging es auch bei den Dreien nicht ohne Kata Lysator, der sich hier aber Kata K nannte.“

„Das war der erste Teil, mein Sohn. Hast du noch Fragen?“ Jan sah bedrückt zu seinem Vater, „was kann man tun, wenn man unglücklich ist?“ Der Mann erwiderte ernst den Blick des Jungen, schwieg besorgt einen Augenblick, doch dann lächelte er, „der französische Dichter Joseph Joubert hat einmal gesagt: ‚Man ist meistens nur durch Nachdenken unglücklich‘ (3).“ „Das verstehe ich, Vater und die Ede Ceh Story ist auch sehr gut geeignet, die traurigen Gedanken zu verdrängen. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung der Geschichte. Gute Nacht.“ Beide standen gleichzeitig aus ihren Sesseln auf. „Gute Nacht, mein Sohn.“ Der Mann strich dem Jungen kurz übers Haar und Jan ging mit schnellen Schritten aus dem Wohnzimmer. Auf der Treppe in den Keller, wo sich sein schön eingerichtetes und großes Zimmer befand, fühlte der Junge, dass das Gespräch mit dem Vater seinen Kopf klarer gemacht hatte und er konnte sich nun auch wieder mit anderen Dingen beschäftigen. Die Gedanken an Lena erwärmten ihn, machten ihn aber gleichzeitig wieder traurig. Ihre Mutter lebte zwar, aber was nutzte das, wenn sie ständig betrunken war und sich um nichts mehr kümmerte? Warum musste seine Mutter sterben, während die andere … Diesen Gedanken dachte er nicht mehr zu Ende, denn inzwischen lag er bereits im Bett und war viel schneller als erwartet eingeschlafen.

 

 

Feuer

Am Donnerstag, dem 18, Oktober, saßen Vater Paul, Mutter Vera und Sohn Ede Ceh gemeinsam am Abendbrottisch. Es sah aus, wie bei jeder anderen Familie auch. Nur das vollkommene Schweigen deutete an, dass das scheinbar idyllische Bild der heilen Familie nicht stimmte. Der Vater saß mit betont geradem Oberkörper am Tisch, starrte nur auf seinen Teller, auf dem er mit Messer und Gabel von einer mit Wurst belegten Scheibe Brot ab und zu ein Stück abschnitt und in den Mund steckte. Auf dem kleinen Brettchen vor der Mutter lag eine trockene Scheibe Vollkornbrot. Die vollschlanke Frau, der man ansah, dass sie einmal schön gewesen sein musste, saß nur da und starrte ihren Mann an. Obwohl sie ein paar Zentimeter größer als ihr Partner war, wirkte sie hier am Tisch, im Sitzen, viel kleiner. Der Sohn Ede sah nur einmal zwischen Vater und Mutter hin und her und wusste, dass es wieder, wie so oft in den letzten Monaten, Streit geben würde. Widerwillig beschmierte er die beiden Hälften eines Brötchens mit Butter und Marmelade, biss ab und zu davon ab und wartete unruhig auf den Ausbruch des Ehekrachs. Die Mutter ahnte, dass ihr Mann gleich nach dem Essen die Wohnung verlassen könnte. Sie befürchtete, dass er zu einer anderen Frau gehen würde. Das wollte sie unbedingt verhindern und so wartete sie auf den Augenblick, in dem er den Mund zum Reden aufmachen würde. Paul Ceh legte Messer und Gabel zurück auf den Tisch. „Ich …“ „… kannst du nicht mal einen Abend zu Hause bleiben!“, fuhr die Frau sofort dazwischen. „Ich gehe nur in meine Stammkneipe“. „Von wegen Kneipe, du willst doch …“ „… ich will nur in meine Kneipe gehen, mehr nicht“. „Na gut, dann komme ich eben mit!“ „Das fehlt gerade noch. Was sollen denn meine …“ „Deine? Deine was? Kollegen? Vielleicht doch eher deine Ische?“ und mit schriller Stimme fügte sie noch hinzu, „oder soll ich besser sagen deine Nutte!“ „Vera, was soll das? Denk an den Jungen!“ Die Mutter verstummte, sah zu ihrem Sohn und bemerkte die Befremdung auf dessen Gesicht, „entschuldige, Ede, aber …“ „Ich geh dann jetzt“, sagte der Vater die Ablenkung der Frau durch den Sohn nutzend und stand auf. „Bleib hier!“, schrie die Frau verzweifelt mit Tränen in den Augen, sprang auf, stieß dabei an den Tisch, sodass ein Teeglas umfiel. Ede starrte auf die Oberfläche, wo die Flüssigkeit langsam von der Tischdecke aufgesogen wurde, während der Vater ohne zu zögern zur Tür ging und die Frau ihm schluchzend hinterherlief. Wenig später knallte die Wohnungstür zu. Die Mutter verschwand im Schlafzimmer, von wo aus der Junge sie bitterlich weinen hörte. Ede stand auch auf, verharrte einen Moment unschlüssig und verließ dann, die Tür leise hinter sich schließend, ebenfalls die Wohnung. Der Junge begriff nicht, warum sich seine Eltern seit ein paar Monaten so anders benahmen. Bis dahin war es doch so schön in ihrer Familie gewesen. Alle drei hatten sich gut verstanden, viel miteinander unternommen und sich gemeinsam gefreut, dass Ede es aufs Gymnasium geschafft hatte und auch ziemlich gut dort zurechtkam. Das war seit einem Jahr vorbei. Weder Vater noch Mutter interessierten sich für seine schulischen Leistungen. Ede wurde nachlässiger, seine Noten sackten ab und nun war er sogar versetzungsgefährdet. Einige Lehrer gaben sich anfangs Mühe ihm aus dem Tief herauszuhelfen, aber dann ließ das auch einer nach dem anderen bleiben, weil Informationen oder gar Beschwerden bei den Eltern ungehört verhallten. Beide Seiten schienen sich mit der Situation abzufinden und die Dinge einfach laufen zu lassen. Ede Ceh tat zwar so, als ob ihm das gar nichts ausmachte, aber in Wirklichkeit belastete ihn diese Situation ungemein, ja, manchmal hatte er sogar das Gefühl, von den Sorgen erdrückt zu werden. Das wiederum führte zu seinem ruppigen, vorlauten, manchmal auch hinterhältigen und aggressiven Verhalten. Ohne Hilfe hatte er keine Chance aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Weder Vater noch Mutter bemerkten das, weil sie nur mit sich selbst zu tun hatten und die anderen Menschen gaben ihn auf, wie die Lehrer oder sie sahen nur Edes rüpelhaftes Verhalten, wie die Nachbarn und beschimpften ihn sogar noch.

Der nur einen Meter und zweiundsiebzig große, athletisch und muskulös gebaute Paul Ceh arbeitete als Schlosser in der Firma ‚Bauauf‘ des Unternehmers Adolf Köhler, der seine Arbeitsaufträge vorrangig vom großen Chemieunternehmen OPA Industrial erhielt. Der vierzigjährige Mann mit krausen, dunkelblonden kurzen Haaren hatte sich neben seiner Ehe mit einer um zehn Jahre jüngeren Frau eingelassen. Die vollschlanke, eigentlich gar nicht besonders schön zu nennende Simone Tusch, hatte es ihm mit ihren üppigen Brüsten und den künstlich gelockten Haaren angetan. Aber erst, als der Mann mit ihr das erste Mal Sex gehabt hatte, war er dem Weib regelrecht verfallen. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie verklemmt seine eigene Frau war und er konnte seine Finger nicht mehr von der anderen lassen. Damit war Paul Ceh so beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie sein Sohn in Schwierigkeiten geriet.

Die selbstbewusste, vollschlanke, attraktive Frau Vera Ceh litt nicht nur unter der Untreue ihres Mannes, sondern auch unter der nun schon über ein Jahr anhaltenden Arbeitslosigkeit. Fünfzehn Jahre hatte sie im großen LUNA-Werk und später bei OPA Industrial als Laborantin gearbeitet. In dieser Zeit strotzte sie vor Selbstbewusstsein. Ihre Kodderschnauze wurde geliebt und gefürchtet. Nichts davon war mehr vorhanden. Sie ließ sich gehen und wurde zunehmend unansehnlicher. Mit der großen Klappe hatte sie ihre sexuelle Verklemmtheit überspielt, die jetzt offen zutage trat und ihren Paul in die Hände einer anderen Frau geführt hatte. Was konnte sie tun, um ihren Mann zurückzugewinnen? Sie bemerkte zwar die Probleme ihres Sohnes, aber sie fühlte sich wie gelähmt und sah sich außerstande irgendetwas für ihn zu unternehmen.