Leseprobe B4

1 Tödlich

  1. Oktober 2000, V-Fabrik

Rene Müller stand leicht gebückt, damit er sich nicht den Kopf an den dicht über ihm befindlichen Gitterosten der Sechsmeterbühne stieß, auf der obersten Plattform des Gerüsts, dessen erste Teile er zu demontieren begann.

„Pass auf Matti!“, rief Müller, wartete, bis sein Kollege hoch sah und warf ihm die erste Stange zu, die der geschickt auffing und auf die Seite legte.

Am Freitagmorgen hatten die Gerüstbauer Rene Müller und Mathias Gruber von Ingenieur Steiner, der rechten Hand von Herbert Jendritzki dem Chef der Gerüstbaufirma ‚Wotan‘, den Auftrag erhalten, eine Brüstung im Apparategerüst der fast fertiggestellten Erweiterung der V-Fabrik abzubauen.

Gruber sah erneut nach oben, die letzte Gerüststange noch in der Hand und bemerkte, dass sein Kollege den Sicherheitsgurt gelöst hatte, damit er ungehindert auf die andere Seite der Plattform gelangen konnte.

„Häng dich ja wieder ein, Rene!“

Müller winkte nur ab, denn noch hatte er ja einen festen Stand, obwohl das Geländer durch die Demontage schon fast verschwunden war und es auch keine andere Möglichkeit mehr für ihn gab, sich irgendwo festzuhalten.

Nachdem Gruber die Stange seitlich abgelegt hatte, sah er wieder zu seinem Kollegen hoch und erstarrte entsetzt in seiner Bewegung, denn Müller kam lautlos durch die Luft geflogen und schlug mit einem dumpfen Geräusch nur zwei Meter von ihm entfernt hart auf dem Betonboden auf.

Sekundenlang konnte sich Gruber nicht bewegen.

Er starrte, völlig benommen auf seinen unnatürlich verkrümmt am Boden liegenden, nicht eine einzigen Laut von sich gebenden Kollegen.

„Was ist passiert?“

Eine Stimme hinter ihm erlöste ihn aus seiner Starre.

Gruber drehte sich um, sah einen Mann mit Helm auf sich zukommen und antwortete leise, mit holpernder Stimme, „rufe einen Krankenwagen.“

„Ist dein Kumpel umgefallen?“

Gruber zeigte mit der rechten Hand zuerst auf seinen am Boden liegenden Kollegen und dann nach oben auf das Gerüst.

Der Operator Emil Balla begriff den Zusammenhang, wollte sofort zur nächsten Sprechstelle rennen, doch ein Blick auf den offensichtlich unter Schock stehenden Gerüstbauer hielt ihn zurück. Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. „Bist du okay?“

Anstelle einer Antwort wiederholte Gruber energischer: „Rufe einen Krankenwagen!“

Ein unbestimmtes Gefühl ließ Ballas Blick noch einmal über den am Boden liegenden schweifen. „Rene!“ Die Erkenntnis fuhr dem Mann in die Glieder. „Mensch, das ist doch Rene Müller!“ Er wandte sich ruckartig an Gruber. „Bin gleich wieder zurück!“ Und rannte zur nächsten Sprechstelle der Wechselsprechanlage.

Dieser Vorfall passierte am Freitagvormittag um 9 Uhr 33, in der V-Fabrik, die zum Konzern von OPA Industrial, einer französisch-amerikanischen Firma gehörte, die das große volkseigene Kombinat LUNA, 1995 übernommen hatte, und die sich jetzt OPA Central Germany oder abgekürzt OPA CG nannte.

Nur eine Minute nach Eintritt des Ereignisses ertönte die energische, besorgt klingende Stimme von Emil Balla aus den Lautsprechern der Rufanlage im Kontrollraum der V-Fabrik:

„Messwarte! Sofort einen Krankenwagen rufen! Ein Gerüstbauer ist aus circa sechs Meter Höhe abgestürzt und offensichtlich schwer verletzt. Ich erwarte den Einsatzwagen an der Nordseite des Apparategerüstes der neuen Anlage. Und sagt Prost Bescheid. Er soll sofort zur Unfallstelle kommen!“

„Wird gemacht.“

Der junge, lang aufgeschossene Messwartenoperator Jonny Adler wählte schon die Nummer der Feuerwehr. Gleich anschließend informierte er den Betriebsleiter Dr. Prost.

Der Unfallort befand sich in der Anlagentasse für die neuen Destillationen. Der 2. Strang zur Erweiterung des Produktionsvolumens befand sich noch in der Bauphase, sodass für diesen Bereich der Projektleiter Mitschke zuständig war, den Prost sofort verständigte. Mitschke informierte den Geschäftsführer der Gerüstbaufirma Herbert Jendritzki und der wiederum rief sofort seinen Chef Adolf Köhler an, den Inhaber der Baufirma ‚Bauauf‘.

Wenig später trafen Prost und Mitschke fast gleichzeitig an der Unfallstelle ein. Der Projektleiter kurvte mit respektvollem Abstand um den am Boden Liegenden und das Gerüst herum. Offensichtlich wollte er schnell die Ursache für diesen Unfall herausfinden und wer dafür der Schuldige sein könnte.

Balla, im Gegensatz zu seiner sonst auch in kritischen Situationen ruhigen, besonnenen und freundlich-spöttischen Art, zog aufgeregt und mit verzerrtem Gesicht Prost am Arm zu dem Verunglückten hin.

„Doc, das ist Rene Müller, der Sohn von Müli, verstehst du?“

Prost warf einen Blick auf den am Boden liegenden jungen Mann, erkannte, dass Balla recht hatte und das ohnehin schon in seiner Brust vorhandene bedrückende Gefühl verstärkte sich.

Gustav Müller und dessen Frau Renate hatten Rene kurz nach der Geburt vor nunmehr achtzehn Jahren adoptiert. Sie durchlebten gemeinsam viele Höhen und Tiefen. Der Junge war immer ein emsig beschäftigtes, sehr lebendiges Kind gewesen. Es gab so manches Problem mit ihm in der Schule und erst vor einem Jahr hatte der mittelgroße Mann seine Lehre zum Chemikanten geschmissen, um als Gerüstbauer in Herbert Jendritzkis Firma, endlich zu Moneten zu kommen. Der Grund für diese Entscheidung war trotzdem nicht nur eine Sache des Geldes, sondern lag auch in der zuletzt bei Rene immer stärker hervortretenden neofaschistischen Gesinnung, die vom Chef der Gerüstbaufirma nicht nur geteilt, sondern gefördert wurde.

Ballas Stimme riss Prost aus seinen Gedanken.

„Doc du musst Gustav informieren!“

„Na klar, Emil, ich mache das sofort.“

Der Ingenieur drehte sich auf der Stelle um und verschwand aus der Anlage.

Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als die Sirene des Krankenwagens zu hören war. Die Sanitäter sprangen aus dem Fahrzeug und ließen sich von Balla einweisen. Der Notarzt beugte sich über den am Boden Liegenden, stand aber schon nach kurzer Untersuchung wieder auf. Die Rettungsassistenten legten den Verunglückten auf eine Trage, schoben ihn in den Krankenwagen, stiegen – einschließlich Arzt – ohne Verzug wieder ein, fuhren ein Stück aus der Anlage heraus, blieben aber immer noch in der Nähe des Messwartengebäudes erneut stehen.

Fünf Minuten später stürzte Müller aus dem Kontrollraum, wollte in Richtung Anlage rennen, doch der ihm auf den Fersen folgende Prost hielt ihn zurück.

„Warte, Gustav, der Krankenwagen hat seinen Standort geändert und steht nun da, am Ende des Gebäudes.“

Müller blieb abrupt stehen, sah sich verwirrt um, entdeckte das Rettungsfahrzeug und rannte sofort in diese Richtung. Er riss die Tür auf und starrte in das Innere des Autos.

„Das ist der Vater des Verunglückten“, erklärte Prost dem vorwurfsvollgrimmig blickenden Arzt.

Dessen Miene entschärfte sich, er ließ den Mann einsteigen und schloss die Tür hinter ihm.

Der mittelgroße, inzwischen 55-jährige, etwas füllige Gustav Müller arbeitete zurzeit als Technologe für den 2. C-V-Strang. Mit der Halbglatze auf dem relativ großen Kopf wirkte er älter, als er tatsächlich war, was aber durch seine temperamentvolle Art, sich zu bewegen, schnell korrigiert wurde. Vielleicht war das der Grund, dass ihn alle nur Müli nannten. Der studierte Lehrer für Mathe und Physik hatte am Unterrichten keinen Gefallen gefunden und arbeitete schon seit 1978, davon über 10 Jahre als Abschnittsleiter, in der V-Fabrik. Seine Klugheit, verbunden mit hohem Engagement, die langjährige praktische Erfahrung und sein ausgeprägter Realitätssinn, machten ihn für den Anlagenleiter Prost zu einem wertvollen Mitarbeiter.

Nach fünf Minuten kam Müller aus dem Fahrzeug wieder heraus. „Ich halte es da drinnen nicht aus, Thomas, es steht schlecht um meinen Sohn.“

Während der Vater sich auf die Bordsteinkante setzte, blieb Prost dicht neben ihm stehen.

Im Krankenwagen bemühten sich Notarzt und Sanitäter, das Leben des jungen Mannes zu retten.

Nach für die Wartenden unendlich langer Zeit kam der Arzt aus dem Sanitätsauto heraus und wandte sich an den inzwischen wieder stehenden Vater. „Wir haben alles versucht, Herr Müller, aber ihr Sohn hat eine Fraktur des Dens axis erlitten, der die Medulla oblongata und das Rückenmark durchtrennt hat, wodurch es zur Zerstörung der Nervenzentren für Atmung und Blutkreislauf gekommen ist. Wir konnten ihm nicht mehr helfen. Rene hat sich – um es mit einfachen Worten zu sagen – das Genick gebrochen. – Er ist tot.“

Für einen Augenblick schwiegen die drei Männer.

„Kann ich ihn mir noch einmal ansehen?“

„Selbstverständlich, Herr Müller.“

Gustav öffnete zögerlich die Tür, stieg langsam ein und kam nach zwei Minuten wieder heraus. Schweigend ging er mit schlurfenden Schritten zurück zum Kontrollraum.

Prost folgte ihm und bat den Ingenieur Franz Schmidt, den unter Schock stehenden Vater, nach Hause zu fahren. Dann wandte er sich an seine Kollegen, die sich inzwischen um ihren Leiter herum versammelt hatten.

„Ihr wisst inzwischen sicher schon, dass der verunglückte Gerüstbauer der Sohn von unserem Gustav Müller ist. Leider muss ich euch jetzt mitteilen, dass Rene seinen Verletzungen erlegen ist. Als Todesursache hat der Arzt Genickbruch angegeben. Wie es zu dem Absturz kommen konnte, ist noch völlig unklar und wird zurzeit untersucht. Der Krankenwagen hat mit dem Toten die Fabrik verlassen. Die Unfallstelle bleibt abgesperrt, ansonsten wird die Anlage mit gleicher Last weiter betrieben. Franz bringt Gustav nach Hause.“

Obwohl ausnahmslos alle Kollegen von dem dramatischen Ereignis betroffen waren, kreisten nach ein paar Minuten die Gespräche in der Messwarte um Vermutungen zur Unfallursache.

Emil Balla, der den Absturz zwar selbst nicht gesehen hatte, aber der Erste an der Unfallstelle gewesen war, hob beide Arme einwenig an und räusperte sich, um die anderen aufmerksam zumachen, weil er offensichtlich etwas sagen wollte.

Der 50-jährige, etwa einen Meter 80 große, meistens schlecht rasierte Operator mit dunklen, immer kurz geschnittenen Haaren, hatte nach seiner Maurerlehre nicht nur zwei Jahre bei der NVA gedient, sondern war danach auch noch drei Jahre auf der MS ‚Leipzig‘ zur See gefahren. Den von Körper und Statur eher unauffälligen Typ hielten Fremde für einen gutmütigen Idioten, weil Balla immer in besonders verdreckter Arbeitskleidung herumlief. Außerdem konnte es durchaus vorkommen, dass er laut zu singen begann: „1000 Mann auf des toten Manns Kiste, ho hoho und ne Buddel voll Rum“, wenn ihm danach zumute war, um anschließend auf einem Plasterohr so laut zu trompeten, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Emil fühlte sich in der Rolle wohl und tat alles, um dieses Bild von seiner Person, aufrechtzuerhalten. Nur die langjährigen Kollegen wussten, dass der Ex-Seemann nicht nur ein einsatzstarker und intelligenter Anlagenfahrer war, sondern auch über ein großes Allgemeinwissen verfügte.

„Ich denke, dass es drei Varianten für den Ablauf des Unglücks geben könnte.“

Der Operator registrierte, dass die meisten ihm zuhörten und fuhr fort, „erstens, es war tatsächlich ein Unfall. Rene hat für einen kurzen Moment den Sicherheitsgurt ausgehangen. Durch eine elektromagnetische Aufladung an einer demontierten Gerüststange erhielt er einen Stromschlag oder er stolperte einfach nur, verlor das Gleichgewicht und stürzte ab.“

Nach kurzer Pause, alle Kollegen sahen aufmerksam zu Balla, fuhr er fort, „zweitens, es war Selbstmord aus Liebeskummer.“

Der Operator hob die Hand, um Einsprüche zu unterbinden. „Schon gut. Passt eigentlich nicht zu unserem, eher nüchtern denkenden und seit Neuem auch noch ideologisch leicht braun angehauchten Rene. – Also Drittens, es war Mord.“

Lautes Raunen ging durch die Reihen der Kollegen, aber Balla sprach ungerührt weiter, „unmittelbar von der über diesem Gerüst befindlichen Apparatebühne wurde er mit einem Stock oder Eisenstab gestoßen. Es hat doch in letzter Zeit wiederholt Diebstähle im Unternehmen gegeben. Oder Rene ist seinen rechtsradikalen Freunden zu derb auf die Zehen getreten? Vielleicht gab es hier Zusammenhänge?“

Prost hatte bis hierher ruhig zugehört, doch jetzt mischte er sich ein. „Emil, du bist unverbesserlich. Ich bewundere aber deine Fantasie. Die Erklärung zum Unfall, das kann ich nachvollziehen, aber Mord, das klingt schon sehr nach Drehbuch zu einem Fernsehkrimi“, sprach’s und verließ wieder den Kontrollraum.

So dachten wohl auch die anderen Kollegen, denn sie gingen, immer noch mit sehr ernsten Gesichtern, wieder an ihre Arbeit.

Nur Balla ahnte, dass hier tatsächlich ein Mord vorliegen könnte. Natürlich nicht wegen irgendwelcher Diebstähle. Er ging angestrengt nachdenkend zurück in die Anlage, um sich auf der Sechsmeterbühne ein bisschen umzusehen.

Je mehr er über den Unfall nachdachte, umso sicherer wurde er, dass Rene von oben gestoßen worden sein musste.

Um 11 Uhr tagte die schnell zusammengerufene Unfallkommission.

„Mein Name ist Dr. Rudolf Klempner, ich wurde von der OPA Geschäftsführung als Leiter für die Untersuchung des Unfalls eingesetzt. Lassen sie uns gemeinsam die Ergebnisse der Ermittlungen zusammentragen.“

Im Besprechungszimmer des Projektleiters Mitschke, das sich in einer modernen Baubaracke am Rande der V-Fabrik befand, waren neben dem Gruppenleiter der Sicherheitsinspektion des OPA-Werkes, Walter Klempner, seinem Inspektor Römer, dem Leiter des Gerüstbaus Herbert Jendritzki, der seine rechte Hand Holger Steiner mitgebracht hatte, dem Zeugen Mathias Gruber sowie dem Bauleiter Just, natürlich Mitschke selbst und der Leiter des C-V-Betriebes Dr. Prost anwesend. Letzterer schüttelte bei den einführenden Worten des Untersuchungsleiters mit dem Kopf.

‚Ausgerechnet diese schleimige, verlogene Knalltüte von Klempner mussten sie mit der Untersuchung beauftragen‘, dachte der Ingenieur zornig, denn mit dem, den Chefs von OPA Industrial scheinbar willfährig gehorchendem Schlitzohr, hatte er sich schon mehrfach angelegt.

Der 47-jährige, immer etwas nervös wirkende, mittelgroße Klempner mit der Halbglatze, war ein waschechter Ossi, aber er wollte auch unter den neuen Bedingungen Karriere machen und ging dabei ohne Rücksicht auf Verluste vor, auch – oder vielleicht sogar besonders skrupellos – gegen seine eigenen Ostkollegen. Der Einfluss der Eltern ermöglichte dem durchschnittlich begabten Sohn einen idealen Durchmarsch vom Abitur über das Chemiediplom bis hin zum Doktor rer. nat., sodass er erst im Alter von neunundzwanzig Jahren, bereits als promovierter Mann, in der Praxis im großen Elektrochemischen Kombinat Batterfield einen Job antreten musste. Trotz emsigen Strebens war es Klempner weder in der Schule noch als Student gelungen sich so in den Vordergrund zu schieben, wie er es sich gerne gewünscht hätte, zum Beispiel als Klassensprecher oder Mitglied des Freundschaftsrates. Auch in der FDJ oder SED wollte ihn niemand in irgendwelchen Funktionen haben. Er blieb ein Einzelgänger. Deshalb begann er sich in den siebziger Jahren für die Punk- und Skinhead-Szene zu interessieren, aber deren auffällige Kleidung stieß ihn ab. Vielleicht auch deshalb, weil er sich nicht traute seine Auffassungen öffentlich zu machen. Er beschäftigt sich vor allem geistig mit diesen Gedanken und geriet dabei ohne es recht zu merken zu einer nationalistisch-faschistischen Gesinnung. Als nach der Wende in den drei großen chemischen Kombinate Beuna, LUNA und das EK in Bitterfeld das Personal rigoros abgebaut wurde, landete auch der promovierte Chemiker auf der Straße. Auf einer Veranstaltung der schwarzen Partei lernte Klempner den ehemaligen Lehrer Siegfried Frantzke kennen, der ihn mit Hilfe von Adolf Köhler nach LUNA holte, wo er einen Job als Sicherheitsinspektor erhielt. Nach der Übernahme von LUNA durch OPA Industrial wurde er zum Gruppenleiter innerhalb der Sicherheitsinspektion des Unternehmens ernannt. Es war so nur noch ein kurzer Weg, dass sich Klempner der rechtsradikalen Gruppe von Jendritzki anschloss. Den Ausschlag dafür gab sein eigentlicher Gönner, der Neuunternehmer Adolf Köhler, der zwar selbst nicht zu dieser Gruppe gehörte, aber Klempner mit seinem Subunternehmer Jendritzki zusammengebracht hatte. Köhler seinerseits gewann mit dem Gruppenleiter einen wichtigen Mann im großen Chemiewerk für sich, der ihn gut informieren und manche Vorgänge auch gut für ihn steuern konnte.

„Kollege Römer kannst du die Fakten noch einmal im Zusammenhang vortragen?“, begann Klempner die Beratung.

Der Sicherheitsinspektor sah von seinem kleinen Notizzettel zu seinem Chef. „Na klar, Rudolf.“

Prost hörte nur mit halbem Ohr zu. Er musste an seinen Kollegen und Freund Gustav Müller denken, der wahrscheinlich in diesem Moment mit seiner Frau sprach. Es war ein harter Schlag für Vater und Mutter. Menschen in ähnlicher Lage verstanden, dass es völlig nebensächlich war, ob es sich um ein Adoptivkind oder ein eigenes handelte. Die Müllers hatten Rene großgezogen, und obwohl die beiden es nicht immer leicht mit dem Jungen gehabt hatten, ließen sie ihn nie im Stich. Sie liebten ihn, so wie er war. Prost wusste das.

„Meine Herren, die Fakten sind eindeutig. Es handelt sich in diesem Falle zweifelsfrei um einen Unfall.“

Bei diesen Worten von Klempner tauchte Prost aus seinen Gedanken wieder auf. Auch, wenn er den Kerl verabscheute, in diesem Falle gab es für Prost keinen Zweifel, dass es sich hier nur um einen Unfall handeln konnte.

  1. Oktober 2000, Halle

Hauptkommissar Schreyer machte sich beim Studium der neuen Akte, die er am Freitag kurz vor Feierabend selbst die ‚West-östliche Akte 2‘ getauft hatte, ein paar Notizen mit dem Bleistift auf einem weißen, bisher noch leeren Papierzettel. Dazu schrieb er zuerst das Datum des heutigen Tages auf die rechte obere Ecke seines Blattes, ehe er die ersten Punkte formulierte:

  • Druckstrippersystem: Was ist das?
  • Geheime Unterlagen über die NS-Vergangenheit liberaler Politiker (Naumannkreis)?
  • Gladio?

Schreyer lachte kurz auf, bevor er den nächsten Punkt auf seine Liste schrieb:

  • Attentat der Stasi auf den Papst?

Es gab auch wieder eine nicht identifizierte Leiche und einen Obduktionsbefund, der dieses Mal eindeutig war. Es handelte sich um eine Frau, deren Namen allerdings immer noch unbekannt war:

  • Fundort: Unweit des Mühlteiches in Halle/Osendorf bei der Ausschachtung des Fundamentes für einen Pfeiler der ICE-Strecke.
  • Zeitpunkt des Auffindens der Leiche: 13. 3. 1998
  • Wahrscheinlicher Eintritt des Todes: um den 10. 2. 1983 herum.
  • Todesursache: Schuss in die Brust. (an dieser Stelle notierte sich Schreyer die Frage: Warum wurde damals nicht sofort ermittelt?)
  • Kaliber: 9 mm
  • Waffe: Vermutlich eine Walther P5

Interessanterweise hatte der damals obduzierende Arzt auch noch Genickbruch sowie Bruch des linken Unterarms und des linken Fußknochens festgestellt. Diese Verletzungen waren eindeutig nach dem tödlichen Schuss hinzugekommen. Der Hauptkommissar fand das interessant genug, die Rechtsmedizinerin Dr. Helene Schenk aufzusuchen. Im Gespräch mit dieser Frau ließen sich wunderbar Zusammenhänge zwischen Indizien und dem Verhalten der betroffenen Menschen herauskristallisieren. Außerdem konnte der Kommissar mit dieser Frau auch ein bisschen über den Fall philosophieren.

Der bereits 58-jährige Polizist war ein norddeutscher Sturkopf, der 1995 von Wismar nach Halle beordert worden war. Schreyer wirkte unnahbar und trat bewusst unzugänglich auf. Wem es gelang durch die harte Schale des einen Meter 80 großen Mannes mit den grau melierten Haaren durchzudringen, der konnte einen überaus sympathischen Menschen kennenlernen, der sich neben seinem Beruf auch für Philosophie, Musik und die Seefahrt interessierte.

Schreyer brauchte am Anfang einer Ermittlung einen Gedankenaustausch, um die immer vorhandenen subjektiven Einstellungen zu einem Fall von vornherein auszuschließen. Der Kommissar fand das wichtig, vor allen Dingen dann, wenn es um ein Vorkommnis ging, das nicht nur weit in die Vergangenheit zurückreichte, sondern auch über den damals vorhandenen Eisernen Vorhang hinwegging.

Schreyer stand schwungvoll von seinem Schreibtisch auf. Ein bisschen freute er sich auch auf die weibliche Seite der Medizinerin, schnappte seinen Notizzettel sowie die Obduktionsakte und eilte die Treppen in den Keller des Polizeipräsidiums hinunter, wo sich das Außenstellenlabor des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Halle (Saale) befand.

Dr. Helene Schenk war 1981 mit achtundzwanzig Jahren in den Westen geflohen, weil sie eine Arbeit als Ärztin bei der Stasi abgelehnt hatte. Sie wusste bis heute nicht, dass ihr diese Flucht damals der extravagante ostdeutsche Anlagenfahrer Balla mit seinem ZKV Hase und der westdeutsche Detektiv Mike Hammer, alias Ernst Wolf, ermöglicht hatten. Die Schenk erhielt damals eine Stelle am Institut für Rechtsmedizin am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und entwickelte sich zu einer hervorragenden Expertin auf diesem Gebiet. Nach der Wende kehrte sie 1992 wieder nach Halle zurück. Die ein wenig gebogene, vielleicht auch etwas zu große Nase, machte die Frau auf den ersten Blick unansehnlich, aber für den aufmerksamen Beobachter verlor sich nach kurzer Zeit nicht nur diese Hässlichkeit, sondern er empfand im Gegenteil alles Negative plötzlich als schön und bemerkte dann auch die weiblichen Reize der Person und ihren kühlen Charme.

„Hallo Helene, hast du mal einen Moment Zeit für einen südschwedischen Fischkopp?“

„Das ist gemein, Malte, du stiehlst mir meine Gesprächsanfangsfloskel und mir fällt kein anderer Spitzname für einen Norddeutschen ein.“

„Wie wär’s mit Sprotte? – Apropos Spitznamen. War einer deiner Vorfahren bei den Halloren Sogger, Salzträger, Gruder oder einfach nur Knecht?“ (2)

Schreyer legte Zettel und Akte auf den Tisch, setzte sich und sah der Schenk aufmerksam ins Gesicht.

Die Frau nahm ebenfalls Platz und antwortete lachend. „Du hast dich wohl mit hallescher Geschichte beschäftigt, Malte? Nicht schlecht“, und ernst fuhr sie fort, „man hat in der Saline immer als Knecht angefangen und sich dann über den Salzträger, den Heizer (Gruder) bis zum Sieder (Sogger) (2) hochgearbeitet. Damit war man der 1. Mann hinter dem Pfänner, dem die Saline sozusagen gehörte. – Aber deswegen hast du mich bestimmt nicht aufgesucht?“

„Bei dem neuen Fall ist der Obduktionsbefund eigentlich eindeutig. Trotzdem wollte ich ein paar Punkte mit dir diskutieren, Helene. Natürlich nur, wenn du Zeit und Lust dazu hast.“

„Du weißt doch, dass ich mich über eine Ablenkung durch dich immer freue. Worum geht es denn dieses Mal?“

„Du, als Quasi-Wessi, kannst dich doch sicher noch besser als ich, der Vollossi, an die Geschichte mit dem Naumannkreis (3) erinnern?“

„Und ob, das hat immer mal wieder hohe Wellen in der Presse und in der Politik geschlagen. Das letzte Mal 1991 als Ernst Achenbach (4) gestorben ist.“

„Worum ging es bei der ganzen Geschichte überhaupt?“

„Gleich nach dem Krieg haben die Nationalsozialisten nach Möglichkeiten gesucht, wieder Einfluss auf das politische Geschehen zu gewinnen. Ein Weg dazu war, dass gestandene Nazis aus der Zeit des Dritten Reiches in die gelbe liberale Partei eintreten sollten, um sie so zu unterwandern und anschließend die Führung selbst in die Hand zu nehmen. Die Rechten kalkulierten damals, dass mit nur zweihundert Mitgliedern ein ganzer Landesvorstand beerbt werden könnte. Der britische Geheimdienst entdeckte diese Bestrebungen und informierte die deutschen Behörden. Weil die aber nichts unternahmen, griffen sie selbst ein und verhafteten in Düsseldorf, Solingen und Hamburg die maßgeblichen Personen. Der Grund für diese Maßnahme lautete, dass diese Gruppe den Sturz der Bonner Regierung betrieben und dadurch die Sicherheit der alliierten Truppen gefährdet habe. Die gelbe Partei organisierte eine eigene Untersuchung dieser Angelegenheit. Das schaffte wieder Ordnung in ihren Reihen, aber es gelang trotzdem nicht, den politischen Drang nach rechts auszumerzen. Leute wie Achenbach (4) nutzten weiter den politischen Einfluss der Partei, um nationalsozialistische Bestrebungen zu unterstützen.“

„Donnerwetter, da steckt ja wirklich genug Zündstoff drin. Vielleicht ist das ja auch in meinem Fall 1982/83 die Triebkraft gewesen? Vermutlich wurden diese Verhältnisse von allen möglichen Personen legal und illegal genutzt, um vor der Bundestagswahl Druck auf die führenden Politiker dieser Partei auszuüben? Dabei könnte es doch auch zu kriminellen Handlungen gekommen sein?“

Die Schenk schüttelte bedächtig ihren Kopf. „Ich weiß nicht, Malte. Das kommt mir eigentlich ein bisschen zu kleinkariert vor. Allerdings standen die Gelben damals vor einem Scheidepunkt, denn einige maßgebliche Mitglieder wollten zu den Schwarzen umzuschwenken …“

„Mit kleinkariert könntest du recht haben. Hier habe ich nämlich noch den Vermerk über ein Attentat auf den Papst gefunden …“

„Das klingt schon viel gewichtiger, Malte, das wird wohl der Kern des Pudels …“

„Aber hier steht, dass das die Stasi geplant haben soll.“

Die Schenk lachte amüsiert. „So ein Schwachsinn! Das können die Politiker vielleicht der Presse erzählen und die veröffentlichen das wider besseres Wissen, aber so ein Plan passt viel eher zur paramilitärischen Geheimorganisation von NATO, CIA und MI6, einer sogenannten Stay-behind-Organisation“. (5)

„Das versteckt sich also hinter dem Namen Gladio (1), Helene?“

„Genau, Malte, so lautete der Name der streng geheimen, auch dem Parlament verheimlichten Organisation, die nach 1990 zuerst in Italien aufgedeckt wurde. Dort in Italien, Belgien und der Schweiz wurden parlamentarische Untersuchungskommissionen zur Ermittlung der Fakten eingesetzt. Natürlich gab es auch Gruppen in Deutschland, der Türkei, Dänemark, Holland …“

„Entschuldige, wieso lautete?“

„Ja, seit 1991 sollten diese Gruppen alle aufgelöst sein …“

„… sind es aber noch nicht. Das kann ich mir gut vorstellen. – Das Ganze entstand im Kalten Krieg?“

„Die Engländer bildeten schon im 2. Weltkrieg eine Spezialeinheit, die verdeckte Operationen hinter feindlichen Linien ausführte und Widerstandsgruppen wie die Résistance unterstützte und ausbildete. Nach diesem Vorbild wurden dann nach 1950 in den anderen westlichen Ländern diese Gruppen gebildet, Waffenlager angelegt und natürlich auch ein bisschen geübt. Du verstehst?“

„Oh ja! Was waren das für Leute, Helene?“

„Die Mitglieder rekrutierten sich unter anderem aus militärischen Spezialeinheiten, Geheimdienstkreisen und Rechtsextremisten. Letztere teilweise mit kriminellem, in der Bundesrepublik Deutschland auch nationalsozialistischem Hintergrund.“

„So eine Scheiße!“

Schreyer schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Entschuldige, Helene, aber dann kollidieren meine Untersuchungen ja wieder mit den Geheimen. Das kotzt mich an.“

„Bleib ruhig, Malte, beim letzten Fall bist du doch auch ohne die Bande ausgekommen. Das schaffst du dieses Mal genauso.“

„Auf die Füße getreten bin ich denen schon, aber da sie offensichtlich bei diesem Fall auch Dreck am Stecken hatten, haben sie erstaunlicherweise stillgehalten. Wer weiß, was dieses Mal passiert?“

„Apropos passiert, Malte. In LUNA hat es einen tödlichen Arbeitsunfall gegeben. Hast du davon gehört?“

„Ja, Helene, aber es war doch eindeutig ein Unfall oder?“

„Kann schon sein. Aber mich hat der Name Köhler stutzig gemacht.“

„Was sagst du? Köhler?“

„Ja, das hat mir der Notarzt erzählt. So heißt der Chef der Firma ‚Bauauf’, bei der der Verunfallte beschäftigt war.“

„Wenn das tatsächlich Adolf Köhler ist, dann könnte doch viel mehr dahinterstecken. – Ich werde mir das mal vor Ort ansehen.“

„Mach das, Malte. Seit OPA Industrial das LUNA-Werk übernommen hat, arbeiten da zwar nur noch zweitausendfünfhundert Leute, aber es ist eins der modernsten Chemiestandorte in Europa, vielleicht sogar der Welt.“

„Und was machen die anderen sechzehntausend? – Schon gut, Helene, ich weiß doch, dass es in keinem Falle so hätte weitergehen können.“

„Du hältst mich auf dem Laufenden?“

„Selbstverständlich Helene.“

Der Hauptkommissar stand auf, schüttelte seiner Freundin die Hand und ging langsam, seine Gedanken ordnend, die Treppen zu seinem Büro hinauf.

Bevor er sein Aktenstudium fortsetzte, griff er zum Telefon und verabredete für den kommenden Donnerstag einen Besuch in der C-V-Anlage.

  1. November 2000, V-Fabrik

„Guten Tag Herr Dr. Prost, ich bin Hauptkommissar Schreyer von der SOKO Null Acht Eins Fünf aus Halle.“

Der Anlagenleiter stand lachend von seinem Schreibtischsessel auf, versuchte aber sofort wieder ernst zu sein.

„Tun sie sich keinen Zwang an, Herr Doktor, bei der Festlegung der Zahl hat man nicht bedacht, dass da 0-8-15 herausgekommen war. Ich bin bemüht meine Untersuchungen, im Gegensatz zur Aussage der Zahl, exakt auszuführen.“

Prost schüttelte die ihm hingehaltene Hand.

„Entschuldigen sie, Herr Hauptkommissar, aber ich finde ohnehin, dass diese Zahl nicht nur eine negative Bedeutung hat.“

„Sowie der Roman von Hans Hellmut Kirst? (6) Der zwar treffend so heißt, aber doch ausgesprochen gut ist? Oder was meinen sie Herr Prost?“

„Genau Herr Kommissar, die Trilogie hat mir auch gut gefallen. Und die angeblichen Menschen 0815 sind auch keineswegs 0-8-15, nicht wahr?“

Schreyer nickte lächelnd. Das hatte er nicht erwartet, mit dem Prost konnte er ja fast so reden, wie mit der Schenk.

„Vielen Dank, dass sie sich Zeit für mich nehmen konnten. Ich werde sie auch nicht lange behelligen.“

Prost zeigte auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch.

„Bitte nehmen sie doch Platz.“

„Ich habe eigentlich nur eine Frage und die können sie mir bestimmt auch im Stehen beantworten: Was heißt Druckstrippersystem?“

Prost stand lachend auf.

„Sie sitzen auch nicht gern an Ihrem Schreibtisch, Herr Hauptkommissar? Das verstehe ich. – Also das Druckstrippersystem: In der letzten Verfahrensstufe der V-Herstellung müssen die geringen Spuren von HCl mithilfe einer Destillationskolonne beseitigt, in dem speziellen Falle sozusagen abgestrippt werden. Früher, also vor 1983, war dieser Teil konventionell ausgelegt, das heißt wie jede andere Destillationsanlage auch: Verdampfen, kondensieren, teilweise zurückführen und aus dem Sumpf das HCl-freie Produkt herausfahren. Weil es aber unmöglich ist, kleine Wasserspuren aus dem System herauszuhalten, hat jeder Betreiber einer C-V-Anlage mit Korrosion zu kämpfen. Die schlägt am liebsten bei der Kondensation zu und insbesondere dann, wenn sich dabei Wasser, in Form von kleinen Tröpfchen, in den Apparaten absetzen kann. Kommt an diesen Stellen auch das aggressive HCl dazu, dann werden die Apparate angefressen. Das neue Strippersystem wird unter Druck betrieben, sodass nicht kondensiert werden muss, weil die Rückführung gasförmig per Druckgefälle zu HCl-Kolonne erfolgt …“

„… und ihre Geräte werden nicht mehr aufgefressen?“

„Sie haben es auf den Punkt gebracht, Herr Schreyer. Außerdem enthält dieses neue System noch zwei Adsorber, wodurch die schwer zu handhabenden Ätznatrontrockentürme entfallen konnten. (7) Darüber haben sich damals unsere Anlagenfahrer am meisten gefreut. – Wenn sie wollen, kann ich ihnen die Anlage zeigen.“

„Das wird nicht nötig sein, denn eigentlich will ich mir nur ein Bild vom Unfallort machen.“

„Gibt es dafür einen besonderen Anlass?“

„Nein, aber ich möchte ein paar Fakten überprüfen. Sie können mich auch von jemand anderem zum Tat …, zur Unfallstelle bringen lassen, Herr Doktor.“

„Das könnte in diesem Falle sogar sinnvoll sein.“

Prost griff zum Telefon und drückte schnell auf vier Tasten. „Ruft Emil aus. Er soll in die Messwarte … Ist schon da? Prima! Soll da auf mich warten.“

Prost legte auf und wandte sich wieder Schreyer zu. „Bitte kommen sie mit zum Kontrollraum.“

Er schob den Hauptkommissar auf den Flur und ging zügig voraus. „Bitte folgen sie mir.“

Schreyer lief langsam hinterher, ab und zu in die offenstehenden Büros hineinblickend, aber fast alle waren leer. Wahrscheinlich schwirrten deren Insassen auch irgendwo in der Anlage herum.

Prost hielt die Tür zur Messwarte auf und ließ Schreyer an sich vorbei in den großen Raum hineingehen.

„Von hier aus werden die C-V- und auch die B-Anlage gesteuert.“

Der Betriebsleiter überholte Schreyer, der nach zwei Schritten in den Raum hinein, stehen geblieben war.

„Emil kommst du mal?“

Schreyer beobachtete erstaunt, dass sich aus einer Gruppe von vier Anlagenfahrern, ein Mann in verdreckter Arbeitskleidung mit einem Plasterohr in der Hand löste und auf sie zukam.

„Wen hast du denn da mitgebracht, Doc? Sieht beinahe aus, wie ein Seemann? Soll ich ihm eine Fanfare blasen?“

„Nein Emil, noch nicht.“

Prost stellte sich neben Balla und zeigte mit der Hand auf den Besucher. „Das ist Hauptkommissar Schreyer von der SOKO aus Halle, Emil.“

Prost legte seinem Operator eine Hand auf die Schulter. „Und das ist Emil Balla, Anlagenfahrer und …“

„Seemann“, sagte Schreyer und, weil inzwischen in der Messwarte Stille eingetreten war, fuhr er grinsend fort, „Vollmatrose von der MS Leipzig?“

„Aye, aye, Hauptkommissar, du bist bestimmt Bootsmann jewesen, hab ick recht?“

Schreyer ging auf Balla zu und legte ihm seinen rechten Arm auf die Schulter. „Wenn du noch ein Jahr länger geblieben wärst, Emil, hätten sie dich auch zum Bootsmann gemacht.“

„Danke für dat Kompliment, Sir, aber dann hät ick ja cleane Klamotten anziehen müssen. – Nee, nee.“

Balla wandte sich Prost zu. „Doktor entschuldige, aber jetzt muss ich trompeten“, und er riss sein Plasterohr nach oben, setzte es an die Lippen, während alle anderen, außer dem Kommissar, sich sofort die Ohren zuhielten, und tutete, dass die Wände wackelten.

Erst als ihn Prost mahnend ansah, beendete er sein Konzert.

Schreyer lachte. „Ich habe die alte Besatzung später immer mal besucht, wenn das Schiff in Wismar angelegt hat. Einmal habe ich da auch von solcherart Konzerten auf dem Schiff gehört, die von einem Matrosen mit besonders verdreckter Kleidung gegeben worden waren. Die hatten sogar ein Bild von dir mit Rohr in der Messe direkt neben der Kombüse aufgehängt. Das warst eindeutig du, Emil, oder?“

„Und ich habe von einem Bootsmann gehört, der innerhalb kürzester Zeit jeden Diebstahl aufgeklärt hat, das warst dann wohl du, Klär …?“

„Untersteh dich, Matrose!“

Schreyer hob lächelnd seine rechte Faust und drohte in Richtung Balla. „Diesen Spitznamen kennt hier noch niemand und dabei soll es auch bleiben. – Aber nun zur Sache. Ich wollte mir die Unfallstelle ansehen. Du warst in der Nähe, als es passiert ist, Emil?“

„Aye-Aye Sir!“

Balla schlug die Hacken zusammen und präsentierte sein Plasterohr in dem er es mit der rechten Hand senkrecht, ohne es auf dem Fußboden abzustützen, an seine Brust drückte.

„Parade rest!“, brüllte der Kommissar militärisch laut zur Überraschung der Zuhörer.

Balla senkte das Plasterohr mit der linken Hand bis auf den Boden, machte mit dem linken Bein einen kleinen Schritt nach links und legte den rechten Arm auf den Rücken, während Schreyer sich an Prost wandte.

„Vielen Dank Herr Doktor, aber mit dieser Begleitung bin ich mehr als zufrieden.“

Der Anlagenleiter hob nur kurz die rechte Hand. „Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht. Wenn Sie noch Fragen haben Herr Hauptkommissar, dann finden Sie mich in meinem Büro.“

Der Anlagenleiter drehte sich um und verließ die Messwarte, während Balla dem Besucher einen Helm auf den Kopf stülpte und ihn vor sich her in Richtung Ausgang schob.

Erstaunt folgten die anderen den beiden mit den Augen, bis sie hinter der Tür verschwunden waren.

Nachdem Balla dem Besucher die Unfallstelle in der Anlagentasse gezeigt hatte, sah der Polizist zur Sechsmeterbühne hoch. „Es wäre interessant sich die Lage einmal von da oben zu betrachten. Ist das möglich, Emil?“

„Na klar, Herr Kommissar! Bitte schreite in meinen Spuren.“

Balla ging langsam, damit sein Gast ihm in Ruhe folgen konnte, in Richtung Treppenhaus voran. Direkt über der Unfallstelle blieb Schreyer stehen und starrte auf die Gitterroste.

„Ich kann eins davon lösen und anheben, damit du einen besseren Blick nach unten hast?“

„Nein, Emil, das ist nicht nötig. Ich suche etwas ganz anderes.“

Nach kurzem Schweigen fuhr er fort, „und ich glaube, dass ich hier auch etwas gefunden habe.“

Schreyer wollte sich hinknien. „Oh, das drückt ja ordentlich gegen die Kniescheibe.“

Er stellte sich wieder aufrecht hin.

„‚Mit dem Alter nimmt die Urteilkraft zu und das „G(e)nie“ ab‘ (8). Soll ich dir ein Brett für deins suchen?“

„‚Das G(e)nie beginnt große Werke. Die Fleißigen vollenden sie‘ (9). – Wo bleibt das Brett, Herr Kant?“

„Schon recht, Herr Da Vinci.“ Grinsend drehte sich Balla um und kam bereits nach ein paar Sekunden mit einem kleinen Blechstückchen, das offensichtlich von einer Isolierung stammte, zurück.

„Bitte schön, großer Meister, jetzt bin ich aber gespannt.“

Schreyer nahm dem Seemann das Teil ab, legte es auf einen Gitterrost, kniete sich darauf, holte eine Lupe aus der Jackentasche und betrachtete damit eine Strebe nach der andern des genau über der Unfallstelle befindlichen Gitterrostes. Plötzlich hob er die linke Hand, ohne die Position der Lupe zu verändern.

„Sieh‘ mal hier, Seemann, was sagst du dazu?“

Balla kniete sich dicht neben den Mann. „Ich sehe nur verzinkte Gitterroststäbe.“

„Hier“, Schreyer drückte ihm die Lupe in die Hand, „sieh dahin, wo mein Finger ist, Emil.“

„Mensch, ick komme mir ja vor wie Sherlock Holmes – schöner Finger, Herr Kommissar. – Oha – da – tatsächlich eine Rostspur. – Die ist nicht von alleine dahin gekommen?“

„Lass uns suchen Seemann, vielleicht finden wir ja das passende Teil dazu. Was meinst du?“

„Ich meine“, Balla sah den anderen vielsagend grinsend an, „das haben wir schon, das Corpus Delicti. Komm mal mit Klärchen.“

Schreyer ließ die Nennung seines Spitznamens, der von der ‚Leipzig‘ stammte, unwidersprochen zu, weil sie ja hier allein waren und er voller Spannung war, was Balla wohl mit seiner Bemerkung gemeint haben könnte. Langsam ging er hinter dem anderen her, der plötzlich an einem Pfeiler des Apparategerüstes stehen blieb, einen etwa eineinhalb Meter langen, ziemlich verrosteten Metallstab hinter der Stütze hervorholte und ihn Schreyer unter die Nase hielt.

„Das habe ich heute nach dem Unfall hier auf der Bühne gefunden. Allerdings war ich nicht so schlau, wie du. Ich habe die Rostspuren nicht entdeckt, obwohl ich so etwas Ähnliches gesucht habe.“

„Seemann, ich befördere dich nachträglich zum Bootsmann.“

„Kannste mich nich lieber zum Dr. Watson ernennen, Sherlock?“

Schreyer antwortete nicht. Er hielt die Lupe dicht an den Metallstab, suchte Zentimeter für Zentimeter die Oberfläche ab und verharrte plötzlich.

„Hier. – Hier sieht man deutlich die Schleifspuren vom Gitterrost. – Was meinst du, Watson?“ Er wandte sich grinsend an Balla.

Der nahm wieder die Lupe, fand dieses Mal sofort die Stelle, aber er schüttelte schweigend mit dem Kopf.

„Was ist? Du hast sie doch gleich gefunden, die Stelle. Warum schüttelst du mit dem Kopf?“

Balla stellte sich betont gerade vor Schreyer hin. „Verehrter Sherlock, Genosse Bootsmann, Herr Hauptkommissar, das wird ein Stich ins Wespennest. Ich zweifle daran, dass du als Organ der Behörde diesen Mord wirst aufklären können.“

„Wie kommst du denn darauf, Emil?“

Schreyer schüttelte zwar seinen Kopf und schwieg, aber man sah ihm an, dass er schon verstanden hatte, was Balla meinte.

„Möchtest du persönlich diesen Fall aufklären, Malte?“

„Ja, natürlich. Was sollte mich davon abhalten?“

„Das kann ich dir erklären, aber nicht hier. Treffen wir uns am Sonnabend im Krug?“

„Gern, Emil, aber warum so geheimnisvoll?“

„Es geht um eine rechtsextreme Gruppe, die sich hier, bisher fast unbehelligt, organisieren konnte. Du verstehst?“

„Ich glaube schon, Emil. Wir machen es so, wie du gesagt hast. Wir treffen uns am 4. November im Krug.“

„Die Stange bringe ich in Sicherheit. Soll ich den Gitterrost auch ausbauen?“

„Wenn das unauffällig möglich ist?“

„Watson macht das schon, großer Meister. Geh du nachdenken, wie wir die rechten Handlanger von einigen Großkopferten rankriegen können.“

„Okay, Emil, ich gehe noch einmal beim Anlagenleiter vorbei. Gehört der zu den Großkopferten?“

„Du willst mich wohl verarschen?!“ Balla fuchtelte mit bösem Gesichtsausdruck, aber lachenden Augen mit beiden Händen in der Luft herum. „Ein Kommissar, ein Sherlock, der keine Menschenkenntnis hat?“

„‚Den guten Steuermann lernt man erst im Sturme kennen‘ (10).“

„Stimmt und ‚Jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch ist, … ‘“

„… denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehen’ (11)“, vollendete Schreyer das Zitat.

„Damit du mehr von meinem Chef und Freund verstehst, sage ich dir Folgendes, Klärchen: Thomas Prost ist mit uns von Anfang an hier in der Anlage durch dick und dünn gegangen. Zuerst als Fachingenieur, ab 1980 als Abschnittsleiter, vier Jahre später als Stellvertreter des Betriebsleiters. Wir haben Schulter an Schulter gestanden in den beschissensten Situationen, die es in unserer Anlage zuhauf gegeben hat. Der Mann ist immer mit gutem Beispiel vorangegangen, auch bei den dreckigsten Arbeiten. Prost hat nie aufgegeben und er hat sich auch für den kleinsten Anlagenfahrer eingesetzt, egal wie der Gegner hieß. Er hat …“

„Schon gut, Emil, ich habe es begriffen. Ich weiß jetzt Bescheid. Also mach’s gut, Seemann.“

Schreyer drehte sich um und verschwand im Treppenhaus, während Balla seinen Pflichten zunächst als Dr. Watson und dann wieder als Operator nachkam.