Tag-Archiv | Liebe

Buch 10-Leseprobe zu Band 1

Leseprobe zu Band 2 siehe Menüpunkt https://www.mensch0815.de/buecher-6-10/buch-10/leseprobe-b10-band-2/

15 – Zu alt für Sex?

Halle, Sonnabend 28. Januar 2017, 18 Uhr, Krug Zum Grünen Kranze

Die zwei Cremers, Mutter Susanne und Tochter Swenja sowie ihr Gastgeber Finley McAskill waren gerade fertig mit ihrem opulenten Menu:

‚Vorspeise für alle drei: Carpaccio vom Rinderfilet mit Basilikum-Pesto, Pinienkernen und einem Bergkäse,

den Hauptgerichten

für Susanne: Hirschroulade mit Meerrettich und Roter Bete in Zwiebelrahm dazu Speckrosenkohl und Kräuterkartoffeln,

für Finne: Knuspriger Gänsebraten mit Preiselbeer- Sauce, Apfelrotkohl und Kartoffelklöße dazu Marzipanbratapfel

und für Swenja: Wildschweinrücken mit Holunder- Portweinjus, Lorbeer- Birnen und Selleriepüree.

Nachspeise ebenfalls für alle drei: Orangen- Schokoladenmousse, Kumquat-Kompott, Zimtblüteneis und Spekulatius.‘

Der Tisch war bereits abgeräumt, als Svenjas Handy brummte. Die junge Frau griff in ihre Handtasche, legte das Teil auf den Tisch, erkannte den Anrufer, „da muss ich rangehen, entschuldigt mich kurz,“ und sie hielt das Handy ans Ohr, „ja Lew?“ Sie lauschte einen Moment, „warte mal einen Augenblick,“ wandte sich ihrer Mutter zu, „Lewan ist vorzeitig aus Tiflis zurück. Ich würde gern …“ sie brach ab und sah fragend zu ihrer Mutter.

Svenja saß nur hier zusammen mit ihrer Mutter, weil der Schotte McAskill sie beide zusammen im Goldenen Hahn in Merseburg kennengelernt und er sie danach zusammen für dieses Essen eingeladen hatte. Die drei saßen an einem Vierertisch im Krug Zum grünen Kranze, der unmittelbar an der Saale lag, direkt gegenüber der Burgruine Giebichenstein.

„Das erfährst du erst jetzt, dass dein Musikus kommt?“ Die Mutter sah ihre Tochter verständnislos an. Natürlich kannte sie den mittelgroßen 35-jährigen, gutaussehenden, sympathischen Georgier Lewan Taktakischwili mit fast glatten, schwarzen Haaren, der an der bereits seit 1964 existierenden ‚Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin‘, Komposition studiert hatte. Ihre als Bibliothekarin ausgebildete Tochter, hatte den jungen Mann vor zwei Jahren bei einer Benefizveranstaltung im ‚Händelhaus‘ in Halle kennengelernt. Susanne besann sich, dachte kurz nach, warf einen Blick auf Finne, der still lächelnd zwischen den beiden Frauen saß und scheinbar ruhig und gelassen abwartete, was jetzt weiter passieren würde.

Die Frage ignorierend sagte Swenja einfach, „Lew holt mich hier ab.“

‚Das hat das kleine Luder geplant,‘ schoss es Susn durch den Kopf, ‚hält die mich denn inzwischen für so alt oder prüde, dass sie glaubt mich unbedingt verkuppeln zu müssen? Laut bemerkte sie etwas zu   gelassen, „wann sehe ich dich und deinen Komponisten?“

„Wir wollten euch beide,“ sie sah von ihrer Mutter zu McAskill und wieder zurück, „eigentlich ins Sonntagskonzert nächste Woche einladen,“ noch einmal sah sie hin und her, „wenn ihr Lust dazu habt. Die Staatskapelle Halle spielt Stücke von Aram Chatschaturjan, Prokofiev und Max Bruch,“ sie sah lächelnd zum Schotten, „ich glaube sogar die Schottische Fantasie.“

McAskill wollte mit leichtem Schmunzeln etwas erwidern, aber Mutter Cremer war schneller, „Lew soll dich holen,“ sie zeigte aufs Handy, „und er soll sich Zeit lassen …“

„Wir nehmen die Einladung sehr gern an,“ fügte der Schotte hinzu.

Nur fünf Minuten später betrat ein lässig gekleideter schwarzhaariger Mann mit leicht gebräunter Gesichtsfarbe das Lokal. Swenja sah sofort zur Tür, blieb aber ruhig sitzen.

Die Mutter war ihrem Blick gefolgt, und wusste nun definitiv, dass ihre Vermutung zutraf, ihre Tochter versuchte, ihr eine sturmfreie Wohnung zu verschaffen. Zuerst wollte sie eine spitze Bemerkung machen, doch das ließ sie schnell bleiben, weil einerseits in ihr eine noch unbestimmte frohe Erwartung aufstieg und sie andererseits in Finnes Augen einen schimmernden Glanz wahrnahm. Außerdem, das war wohl das Ausschlaggebende, wollte sie sich keine Blöße geben.

Inzwischen war Swenjas Freund an ihrem Tisch angekommen. „Hallo Susanne,“ er reichte der Frau seine Hand, wandte sich dem inzwischen aufgestandenen Schotten zu, „pleased to meet you Sir.“

„Likewise, und ich schlage das deutsche du vor,“ er wartete, bis der andere nickte, bevor er fortfuhr, „dein Vorname ist Lewan und ich vermute – du bist Armenier?“

„So wie sie … du … Engländer.“

„Also Russe denke ich eher weniger … ah … Georgier?“

„Right! Und ich weiß natürlich, dass du Schotte bist.“

„Ich bin Finne,“ erwiderte McAskill todernst.

„Ich dachte du bist Schot …“ er brach ab, weil er das breite Grinsen des Mannes sah, „ah, bin ich doch reingefallen, Revanche sozusagen?“

„Die beiden Männer,“ die Mutter nickte ihrer Tochter zu, „verstehen sich ja prachtvoll.“

„Wollen wir sie allein lassen?“ schlug Swenja vor und stand auf.

„‘Der glückliche Mann verliert seine Frau, der unglückliche sein Pferd.‘“

Die beiden Frauen sahen erstaunt zu dem jungen Mann auf.

„Altes georgisches Sprichwort,“ ergänzte er schnell, um die im Raum stehende Aussage, die ihn wohl im Nachhinein ebenfalls erschreckte, etwas zu entschärfen.

„Nichts im Leben begehrt – Mann – mehr,“ McAskill löschte mit seinen Worten den leisen Missklang, den Lews Spruch ausgelöst hatte, „als das, was ihn einerseits abrupt wegstößt, ihn ärgert, quält und wütend macht, und das ihn andererseits magisch anzieht, wie die Liebe zu einer Frau.“

„Wow!“ staunte Swenja, „von wem ist das Zitat?“

„Von einem – unbekannten alten Mann?“ antwortete der Schotte zurückhaltend.

Susanne sah nachdenklich zu Finne, schwenkte ihren Blick über Lew zu ihrer Tochter. „‘Es gibt ein Alter, in dem eine Frau schön sein muss, um geliebt zu werden. Und dann kommt das Alter, in dem sie geliebt werden muß, um schön zu sein‘, zitiert eine alte dumme Frau eine junge kluge.“

„Das klingt interessant. Komm Swenja,“ Lew hielt ihr seine Hand entgegen, „lass uns über den ersten Teil des Zitats allein diskutieren.“

„Richtig Lew, damit die zwei,“ sie nickte zu ihrer Mutter und Finne, „in Ruhe über den zweiten Teil nachdenken können.“ Die junge Frau ergriff, die ihr dargebotene Hand, und die zwei verschwanden mit einem kurzen Gruß stolzen Schrittes aus der Gaststätte.

„Ich finde beide Teile deines Zitats interessant, denn du bist auf keinen Fall alt…“

„… aber auch nicht mehr jung,“ unterbrach die Cremer. Beide setzen sich wieder an den Tisch.

„… außerdem denke ich,“ fuhr der Schotte nahtlos fort, „dass der zweite Teil wohl für alle Frauen gilt, auch wenn sich der Inhalt, der reale Ausdruck der Liebe verändert.“

„Das sehe ich ähnlich, Finne. Liebe, gerade in ihrer praktischen Form, stimuliert sowohl die Frau jeden Alters als auch den Mann. Sie lässt sie schöner erscheinen, macht ihn entschlossener und sorgt wohl bei beiden für höhere Aktivität.“

„Du bist eine kluge Frau Susanne,“ McAskill hob einen Widerspruch abwehrend eine Hand, „wenn ein Paar immer offen über die wichtigen Dinge redet, ohne tabu redet, dann hält sie das bis zum Tod in Schwung.“ Der Ton am Ende des Satzes ließ ein kleines Fragezeichen hören.

‚Meinst du damit auch Sex?‘ beinahe wäre ihr diese Frage herausgerutscht. ‚Hoffentlich meint er damit auch Sex,‘ hoffte die Cremer, ‚denn darauf habe ich in deiner Nähe mehr und mehr Lust,‘ dachte sie, aber das konnte sie so noch nicht aussprechen. Susn hob ihr volles Bierglas, das der Ober gerade abgestellt hatte, „auf den Sex …,“ die Cremer traf fast der Schlag, ‚hatte sie das etwa laut gesagt? Oh Gott!‘ „Entschuldige Finne.“ Beinahe wäre sie auch noch rot im Gesicht geworden.

„Wieso entschuldige? Susanne,“ der Mann lächelte sie an, „im Gegenteil, ich freue mich. Genau das ist doch auch damit gemeint, der Sex gehört zur Liebe, zum Leben dazu und ich denke seine Wichtigkeit nimmt im Alter keineswegs ab. Es verändern sich nur die Formen, die Art und Weise des Tuns von Sex.“

Die Cremer, immer noch auf- und angeregt, hätte beinahe das Glas auf Ex leergetrunken, fing sich aber schnell wieder, obwohl sie immer noch voller Ärger über sich selbst war, dass ihr dieser Satz unbewusst, ungewollt entschlüpft war. Sie setzte das fast leere Glas auf dem Tisch ab. ‚An sich war es wirklich nicht so schlimm, denn offensichtlich wollten sie ja beide Sex?‘

McAskill bemerkte natürlich die Erregung der Frau, war sich aber nicht sicher, was das für den weiteren Verlauf des Abends bedeutete. ‚Ärgert sie sich und macht dicht?‘ Er trank ein paar Schlucke, damit der Unterschied zu ihrem nicht ganz so deutlich ausfiel, denn sein Glas war noch fast voll. Als er es auf den Tisch stellte, war es so leer, wie das ihre. ‚Wie kann ich die Situation auflockern?‘ grübelte er, aber es fiel ihm nichts ein. ‚Vielleicht war ihre Erregung aber auch verbunden mit Lust auf Sex?‘ Plötzlich fiel ihm sein Besuch der Sitte-Galerie am Dom wieder ein, der höchstens erst einen Monat zurücklag. „Susanne, kennst du eigentlich den halleschen Maler Willi Sitte?“

‚Du bist tatsächlich klug Finne,‘ dachte die Frau, denn natürlich kannte sie den Maler Willi Sitte schon aus DDR-Zeiten und dessen erotische Bilder, in denen er fast alle sexuellen Positionen zwischen Mann und Frau dargestellt hat.

„Nein, sollte ich?“ fragte sie scheinheilig, „interessiert dich Malerei?“

„Ich interessiere mich für Literatur, Musik und Kunst und Malerei gehört auch dazu. In Merseburg gibt es die Willi-Sitte-Galerie und die habe ich mir angesehen.“ Er sah Susanne in die Augen, „die Bilder passen zu unserem Gespräch.“

„Inwiefern, Finne?“ Die Cremer sah den Mann mit großen Augen an.

„Aber davon ganz abgesehen. Ich bin dahin gegangen, weil ich empört war, wie Medien und Politiker in Halle und Umgebung mit dieser Künstler-Persönlichkeit umgehen. Sitte desertierte 1944 in Italien von der Wehrmacht und schloss sich italienischen Partisanen an. Das hat mir mächtig imponiert.“

„Und ich weiß, dass er an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle als Professor gearbeitet hat.“

McAskill sah die Frau erstaunt an, ‚hat sie also doch schon mal von Sitte gehört,‘ fuhr dann aber fort seine Gedanken weiter darzulegen, „ja und ich habe gelesen, dass er damals ein Vertreter der aufmüpfigen, eigenwilligen Kunstszene in Halle war, die Unabhängigkeit von Kulturfunktionären forderte.“

Die Frau legte Wärme in ihre Stimme. „Interessant, dass du, als Schotte, der die DDR gar nicht gekannt hat, das sagst.“

„Ich weiß aber auch, dass er sich nicht nur mit der DDR identifiziert, sondern sogar zum Partei Zentralkomitee gehört hat. Dennoch rechtfertigt das nicht die ideologische Vehemenz, mit der gegen Ausstellungen von Sitte und anderen DDR-Künstlern gewettert wird. Eine Schlagzeile in der Bild lautete: ‚Schließung von DDR-Gemäldeausstellungen gefordert!‘ Natürlich berufen sich die Redakteure auf offizielle Stellen, wie zum Beispiel die Dokumentationsstelle des Landes zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Die Beamten dort sind aggressiv, aber immer nur in eine Richtung. Mit einer derart durchgängigen Ablehnung jeglicher DDR-Kunst, macht sich diese Zeitung zum Sprachrohr reaktionärer politischer Kräfte und spielt damit in die Hände rechtslastiger Parteien und Organisationen.“

„Entschuldige Finne, aber was hat das alles mit Sex zu tun?“

Den Mann durchfuhr eine warme Welle der Zuneigung. Die Frau war phänomenal. Er hatte, während er sprach, das Gesicht seiner Gesprächspartnerin aufmerksam studiert und darin Zustimmung zu seinen Worten gelesen. Die Frau war offensichtlich keine Schwätzerin, aber diese Frage…

„Ja weißt du, Susanne,“ der Mann sah die Frau an und fuhr lächelnd fort, „das Beste wäre doch, wir besuchen zusammen diese Galerie?“

„Gute Idee Finne. – Wann?“

„Soviel ich weiß, ist die Galerie sonntags von 13 bis 17 Uhr geöffnet, okay?“

„Abgemacht!“ Sie warf McAskill einen verschmitzten Blick zu, „dann können wir ja morgen zusammen nach Merseburg fahren?“

„Ich kann im Zimmer deiner Tochter schlafen?“ Das Lächeln im Gesicht des Mannes ersparte ihr eine Antwort.

„Prost!“ sagte sie, „auf Willi Sitte, seine Gemälde und auf unseren Besuch morgen.“

„Auf uns beide, prost.“

Sonntag, 29.1. 14 Uhr, Merseburg, Willi-Sitte-Galerie

„Das,“ McAskill nickte in Richtung der Zinkografie ‚Zu Hochzeitscherz von J. Ch. Günther‘, „die Sitte als Vorlage gedient hatte, „ist bei uns gestern Nacht – nicht vorgekommen.“

„Dafür aber fast alles andere,“ Susanne schwenkte lächelnd ihren rechten Arm in Richtung der bereits hinter ihnen liegenden Zeichnungen, Radierungen und Gemälde, „was wir auf den bisherigen Bildern gesehen haben.“ Sie seufzte, „oh Gott, war das schön,“ flüsterte sie leise.

Sie gingen Hand in Hand weiter, landeten in einem Büro der Geschäftsführerin deren Tür offenstand, weil sie glaubten, dort könne es weitergehen, machten kehrt, gingen durch den Saal mit, an orientalische Märchen erinnernden Gemälden des usbekischen Malers Bahadir Yuldashev und mussten mit Bedauern feststellen, dass sie bereits alle, zurzeit hier ausgestellten Bilder von Willi Sitte, angesehen hatten.

„Die Ausstellung Anfang der achtziger Jahre war viel umfangreicher. Außerdem …“ Susanne stockte, weil ihr bewusst wurde, dass sie sich gerade lügenstrafte, denn sie hatte ja behauptet, dass sie Sitte gar nicht kennen würde. Sie drehte ihren Kopf zu Finne, aber der sah weiter auf eine schwarz-weiße Radierung, auf der ein muskulöser nackter Mann mit erigiertem Glied, vor einer ebenso nackten Frau posierte, die mit leicht gespreizten Schenkeln, hinten auf einem Planwagen hockte.

„… entschuldige Finne. . .“

Der hob nur abwehrend seine freie Hand.

„. . . natürlich kenne ich Willi Sitte,“ fuhr sie fort, „er ist für viele Ex-DDR-Bürger, nicht nur in Halle, eine wichtige Identifikationsfigur, vergleichbar mit den Autoren Stefan Heym, Peter Hacks oder Christoph Hein. Diese Künstler strahlen auch heute noch, zumindest in ihren Büchern, Aufrichtigkeit über das Leben in der DDR aus. Während viele andere versuchen, zum Beispiel durch überzogene und sich summierende Darstellungen, die Missstände in der DDR darzustellen, um damit Menschen, die sich zu diesem Staat bekennen, glauben schlecht machen zu können. Die Krönung ist, wenn sie ihnen auch noch Stasizugehörigkeit andichten können, ganz so als ob die westlichen Nachrichtendienste, die ausschließlich Guten seien, also quasi völlig harmlose Geheimdienste in der Welt wären. Ziel ist es, kein gutes Haar an dem untergegangenen Staat DDR zu lassen. Denn damit verbindet sich für den Kapitalismus der einzig erstzunehmende Gegner, der Krieg und Ausbeutung in diesem System an den Kragen will.“

„Genauso werden heute wohl auch die Orden und Preise verteilt,“ ergänzte McAskill, „wie zum Beispiel der ostdeutsche Uwe Tellkamp mit ‚Der Turm‘.“

„Dazu gehört auch Lutz Seiler mit ‚Kruso‘,“ setzte die Cremer die Aufzählung fort mit dem wohligen Gefühl, dass der Mann sie auch diesbezüglich verstand, hatte er doch mit seinen Kenntnissen zum Ausdruck gebracht, dass er sich nicht nur mit der DDR-Literatur, sondern auch dem Leben in diesem untergegangenen Land beschäftigt haben musste.

„Obwohl,“ Finne berührte Susn am Arm, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern „der Seiler schreibt in einem ausgezeichneten Deutsch.“

„Da fällt mit gleich noch Eugen Ruge ein,“ fuhr wieder die Cremer fort, „dessen Vater Deutscher, die Mutter Russin war, mit dem Roman ‚In Zeiten abnehmenden Lichts‘. Mit diesem Buch konnte ich mich sogar anfreunden. Aber echt schlimm, weil verzerrend, sind die Filme, richtige Gruselmärchen über die DDR, zum Beispiel vom Rheinländer Donnersmarck. Kein Wunder, dass gerade der von der reaktionären Filmpreisverleihung in den USA einen Oskar bekam.“

Susanne folgte dem Blick des Mannes, wandte sich ihm liebevoll flüsternd zu, „dein steifer Penis war gestern viel deutlicher, größer, schöner als der da,“ sie nickte in Richtung Grafik, „und er fühlte sich wunderbar an in meinen Händen, meinem Mund, meinem Körper…“

„Wir haben wohl wirklich alles gemacht, was ich bisher kenne, was man sexuell machen kann. Meine Zunge zwischen deinen – vier – Schamlippen . . . zum ersten Mal habe ich gesehen, dass die Vagina der Frau tatsächlich vier besitzt.“

„Ich muss dir gestehen, dass ich erst jetzt weiß, was ein Blowjob ist. Das Wort kannte ich nur aus einem Buch. Ich hätte nie gedacht, dass man damit einen Samenerguss erzielen kann.“

„Dafür hast du’s aber richtig professionell . . . Au!“ Finne stöhnte auf, weil die Frau ihm in die Rippen geknufft hatte, „. . . wundervoll, hochbefriedigend gemacht.“

„Soll ich heute nochmal . . .?“ Sie legte kurz ihre Hand an die bestimmte Stelle, denn sie waren in diesem Raum allein.

„Hast du nicht morgen Frühschicht?“

„Wie unromantisch.“ Susanne öffnete den Reißverschluss von Finnes Hose. „Dann muss ich eben gleich hier. . .“ und sie griff mit der Hand in die Öffnung.

Der Mann fasste schnell die Hand der Frau, doch die hatte das Objekt der Lust bereits gepackt, „du bist verrückt,“ stöhnte er, weil der feste Griff der Frau ihn so reizte, ja regelrecht geil machte, dass er sich nicht mehr dagegen wehrte, dass sie das bereits erigierte Glied aus dem Hosenschlitz zog. Eine Sekunde später betrat ein etwas jüngeres Paar den Ausstellungsraum. Finne wollte seine Blöße schnell verschwinden lassen, aber Susanne ließ das nicht zu. Sie zog den Mann an sich, so dass nichts Nacktes mehr zu sehen war, zeigte in Richtung einer Staffelei, auf der ein unvollendetes Bild von Sitte zu sehen war. Daneben stand ein überdimensional großes farbiges Gemälde, auf dem zwei nackte dralle Frauen zu sehen waren. „Brüste und stramme Schenkel hat der Maler offensichtlich sehr gemocht.“ Sie drehte kurz ihren Kopf zu dem Pärchen hinter ihnen, die vor einem anderen Gemälde standen, leise miteinander flüsterten und offensichtlich mit sich selbst zu tun hatten. Nur die junge Frau warf kurz einen lächelnden Blick zu Susanne und Finne.

„Kannst du erkennen, was das Bild auf der Staffelei werden sollte, Finne?“ Susanne wartete keine Antwort ab und schob während des Sprechens das Glied langsam zurück in die Hose.

Finne zog sofort, aber langsam und geräuschlos, den Reißverschluss zu. „Sag mal, wie alt sind wir doch gleich?“

„Wenn ich von meinem Befinden ausgehe, nicht über Dreißig.“ Susanne sah ihn mit leuchtenden Augen an.

„Muss wohl so sein,“ McAskill schüttelte seinen Kopf, „bisher glaubte ich in drei Jahren Sechzig zu werden.“

Die Frau hakte sich in den Arm des Mannes ein, „komm, lass uns gehen, Finne, ich bin scharf wie. . .“

„Zu dir oder zu mir?“

„Wie komme ich von hier dann zur Arbeit?“ Sie sah ihn fragend an, „mit der Straßenbahn?“

„Quatsch!“ Sie kicherte albern, „ich nehme dich natürlich mit.“

„Um fünf Uhr?“

„Na, viertel nach Fünf reicht auch, Okay?“

„Wenn wir wieder die Nacht durchmachen, dann reicht auch fünf Uhr dreißig, denn dann schwebe ich morgen auf Wolken zur Arbeit.“

„Ob das gut geht?“

„Glaubst du etwa ich kann nicht mehr zwei Nächte durchmachen?“ Sie sah den Mann – gespielt – empört an. „Schon vergessen? Dreißig und nicht fünfundfünfzig. – Oder. . .“

„Was, oder?“

„. . . oder kannst du nicht,“ sagte sie fast flüsternd, denn auf keinen Fall wollte sie den, ihr inzwischen so nahestehenden Mann, vor den Kopf stoßen. Doch wenn sie an die letzte Nacht dachte, schämte sie sich sofort. „Entschuldige, Finne, ich weiß . . .“

„. . . bei einer Sexy-Frau, wie du es bist,“ unterbrach der Mann lachend, „spielt doch das Alter des Mannes keine Rolle. Da klappt es sogar immer öfter.“

„Das stimmt,“ stellte sie entwaffnend fest, „ich bin viermal gekommen. So viel Spaß beim Sex hatte ich noch nie.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, denn mir hat es genauso viel Spaß gemacht.“

„Wie schön,“ konstatierte die Cremer.

„Vielleicht schon zu schön?“

„Und wenn? – Jetzt ist es so! Jetzt genießen wir das, was ist. Jetzt ist unwichtig, was morgen sein könnte.“

Beide versanken in Gedanken an die letzte Nacht.

„Ich habe eine Idee, Finn.“

„Wir sehen uns noch einmal die erotischen Bilder an?“

„Nicht einfach so. Wir versuchen herauszufinden, wie viel Stellungen im Liebesverkehr zwischen Mann und Frau, Sitte hier skizziert hat.“

„Wunderbar. Ideen muss man haben.“

Hand in Hand zogen die beiden erneut, dieses Mal  sehr zielstrebig durch die Galerie.

Sie amüsierten sich köstlich. Dann fuhren sie voller Vorfreude zu McAskills Wohnung.

Buch 10: ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Hallo liebe Lesefreunde!

 Das 10. Buch von Max Balladu ist ein Roman in zwei Bänden, die in je zwei Teile aufgegliedert sind. Der Titel lautet: 

‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Band 1

 

 

Band 2

Buchlesungen finden im Januar statt.

Beide Bände sind im Online-Buchhandel verfügbar.

Preise:

Band 1    19,99 €

Band 2   15,99 €

Ein einziger Tag

   Ein einziger Tag

Ich frage mich viele Stunden tausendmal,
Woher mir dieses Lastbewusstsein kommt.
Dieser dumpfe tiefe Schmerz …
Einen einzigen Tag frei sein!
Frei, fern von Kummer, Sorgen, Last,
Wie Lieder in den Wäldern.

Ich habe Freude oft verloren,
Mich zu empfinden in der Mattigkeit.
Ich bin gequält in meinem Weiterschreiten.
Einen einzigen Tag frei sein!
Hoch fliegen über den Wolken möchte ich.
Das Vergessen suchen.

Und bitter, daß ich mich oft nicht wehren kann.
Ich schüttele mich in Horror-Träumen,
Es hilft nicht Genuss noch Raserei.
Einen einzigen Tag frei sein!
Über das helle Wasser gehen.
Meiner Seele Flügel geben.

Ich bin mit Gott und seiner Welt zerfallen,
Habe nie gebetet noch gläubig gefühlt.
Möglich, daß es den Demutfrieden gibt.
Einen einzigen Tag frei sein!
Nichts wissen mehr von bitteren, langen Nächten,
in denen die Augen groß werden vor Not.

Ich muß doch Mensch sein, in allem Widerspruch.
Ich fühle, ich kann glauben, wie ich muß.
Wie bist du müde, Welt, die mich geboren,
Einzig bereit, mir Ketten aufzudrücken.
Mir deine Schatten fester einzugraben.
Tränen liegen auf meinen Wangen.

Einen einzigen Tag frei sein!
Wo ich lodern kann und mich entzücken.
Mich hingeben des Wahnes schöner Hoffnung.
Dem Wunsch, Ketten zu brechen,
Und Licht zu trinken …
Einen einzigen Tag Licht schauen!

Einen einzigen Tag frei sein!

Verfasst von Anni Kloß mit Hilfe von Ingeborg Bachmann

Dorothea-Leporin-Klinik

3. Auszug  aus Balladus neuem Buch ‚Tote brauchen keinen Himmel‘

Halle, Montag, 23. Januar 2017

„Mein Name ist Stolz,“ der junge Mann schob seinen ehemaligen Chef im Rollstuhl, den er sich bei seiner Ankunft im Klinikum besorgt hatte, der vor ihm stehenden Frau direkt vor die Füße. „Das ist Dr. Prost. Er hat im Betrieb plötzlich starke Schmerzen im linken Bein bekommen. Er wollte selbst in diese Klinik fahren, aber weil das nicht ging, habe ich ihn hierhergebracht.“

„Warum haben sie keinen Krankenwagen gerufen?“ fragte die schlanke, dunkelhaarige, vielleicht fünfzigjährige Frau, auf deren Schild am weißen Kittel, Oberärztin Dr. Pannwitz stand, während sie bereits den Patienten untersuchte.

„Dr. Prost war sich nicht sicher, ob der Notdienst ihn auch genau hierher, zu ihnen, gefahren hätte. Also habe ich das übernommen.“

„Verstehe. Das war richtig so Herr …“ sie sah dem jungen Mann fragend ins Gesicht.

„Stolz, Michael Stolz.“

„… Herr Stolz. Wir kennen Herrn Prost und sein Problem. Meine Assistenzärztin wird den Patienten gleich übernehmen.“

„So lange warte ich noch.“

„Wie sie wollen.“ Die Ärztin drückte dem Mann kurz die Hand und verließ den Behandlungsraum.

Kurz danach betrat eine junge Frau, ebenfalls im weißen Kittel mit Namensschild, das Zimmer. Sie blieb kurz stehen, als sie den großen, breitschultrigen, etwa gleichaltrigen Mann mit der athletischen Figur entdeckte. Offensichtlich hatte sie nur an den siebzigjährigen Patienten gedacht und war jetzt überrascht, einen viel Jüngeren zu sehen. Außerdem wirkte der Gesichtsausdruck des Mannes angenehm auf sie. Dabei würde man auf den ersten Blick eher sagen, ein herber, nicht besonders schöner Mann. Der erste Eindruck entstand durch die weiße, glattrasierte Haut des Gesichts, mit den vielen unsystematisch verteilten Sommersprossen, den einfach halblang geschnittenen, dunkel-braunen, leicht rötlichen Haaren. Interessanterweise verschwand durch die Brille der etwas stupide Eindruck. Die eindrucksvolle Größe und Statur des Mannes korrigierten das Bild ins Positive. Dorothea zog den Schluss, ein attraktiver Mann. Sie ging lächelnd auf Stolz zu. „Ich bin die Assistenzärztin Dorothea Ruge. Sind sie der Sohn?“

Stolz war so in den Anblick der Frau vertieft, dass die Frage, wenn auch mit dunkler, angenehmer, einprägsamer Stimme gesprochen, nur wie aus der Ferne zu ihm kam. Ihm gefiel alles, was er sah, die gut proportionierte Figur mit dem wohlgeformten Busen, die leicht welligen, dunklen, fast schwarzen Haare im Bubikopf Schnitt, das ebenmäßiges Gesicht mit den braunen Augen – nur die Nase wirkte, wenn man die Frau direkt von vorn betrachtete, etwas zu breit geraten. Sogar dieser kleine Schönheitsfehler gefiel Stolz. Irgendetwas zog ihn magisch zu dieser Erscheinung hin. Dabei hatte er sie doch gerade zum ersten Mal gesehen.

Plötzlich spürte der Mann Prosts Hand an seinem Arm, erwachte spontan aus seinen Gedanken und erinnerte sich der an ihn gestellten Frage. „Nein, nein,“ Stolz lachte kurz auf, „Dr. Prost ist ein ehemaliger Kollege. Aber, wenn sie so wollen, bin ich auch ein Nachfahre von ihm, denn ich arbeite genau da, wo früher der Doktor gearbeitet hat.“

„Und das ist, wenn ich fragen darf?“ Wieder lächelte die Frau.

„C-V-Anlage bei OPA Industrial, aber ich bin nur Fachingenieur. Der Doc war dort der Chef.“

„Das kann ja noch kommen, Michael,“ mischte sich der Patient ein, „so, wie ich Harry Kupfer verstanden habe, bist du absolut dazu geeignet.“

„Gut, dass sie uns erinnern Herr Dr. Prost, dass sie hier eigentlich die Hauptperson sind. Ich bringe sie jetzt auf ihr Zimmer. Sie sollen gleich morgen früh operiert werden, aber vorher müssen wir noch einiges erledigen.“

„Kann ich dann morgen schon den Doc besuchen?“ Stolz sah nur die Frau an.

„Das ist doch nicht nötig,“ sagte Prost schon wieder grinsend, weil die spontane, offen zu Tage tretendende Bewunderung seines Kollegen für die Frau, seinen Schmerz wohl etwas verdrängt hatte. Natürlich wusste er auch, dass Stolz nur wegen der Ärztin wiederkommen wollte.

„Doch, doch,“ stammelte Stolz, „ich muss ihnen noch zur Anlage ein paar Fragen stellen.“

„Nein, morgen wird das nichts,“ sagte die Ruge, „die OP ist nicht ganz einfach, kann also lange dauern, dann folgt die Aufwachphase, die bis in die frühen Morgenstunden dauern kann. Kommen sie am besten übermorgen.“

Die dreißigjährige Dorothea Ruge war in Friedrichsbrunn im Harz geboren, wuchs in Mahlwinkel auf, wo sie auch die ersten vier Jahre von 1993 bis 1998 zur Schule ging. Ab 5. bis 8. Klasse, musste sie mit dem Bus nach Angern fahren und fürs Gymnasium hatte sie die Mutter in Osterburg angemeldet, weil es da eine gute Internatsunterbringung gab. Danach arbeitete sie drei Jahre als Krankenpflegerin im Osterburger Krankenhaus und begann 2010 ihr Medizinstudium in Magdeburg, das sie 2015 als Diplommedizinerin abschloss. Seit 1. September 2015 arbeitete sie als Assistenzärztin an der Klinik ‚Dorothea Leporin‘ in Halle (Saale).

„Sind sie dann auch wieder im Dienst Frau Doktor?“ Stolz blickte hoffnungsvoll auf die Ärztin.

„Ich muss sie enttäuschen,“ sagte die Ruge, wieder mit dem gleichen charmanten Lächeln, und Prost beobachtete amüsiert, wie das Gesicht seines jungen Kollegen einen Hauch von Traurigkeit überflog.

„Den Titel habe ich noch nicht verdient,“ fuhr die Frau fort, „ich bin erst dabei, meine Doktorarbeit zu schreiben. Aber, na klar bin ich übermorgen da.“

‚Schon strahlt er wieder‘, registrierte Prost, der zur mehrfachen Wiederholung seines Titels und die vordergründige Betonung ‚Chef‘, nur geduldet hatte, weil er natürlich wusste, das Stolz das nur tat, um bei der Frau Eindruck zu schinden. „Dann mach dich mal schnell wieder in die Anlage, Michael, sonst tanzen deine Anlagenfahrer noch auf den Tischen.“

„Das sind doch keine Schü…,“ Stolz merkte, dass Prost ihn nur hatte auf den Arm nehmen wollen, hüstelte verlegen, „also, ich geh dann. Auf Wiedersehen Dr. Prost,“ sah zur Ärztin, „und bis übermorgen.“

Stolz ging dicht an der Frau vorbei zur Tür und verschwand. Der Blick, mit dem die junge Frau seinem begegnete, ließ den Mann innerlich jubeln, so dass er einen Luftsprung auf dem Flur vollführte, sich dann aber schnell versicherte, dass ihn niemand beobachtet hatte. Die zwei Krankenpflegerinnen schienen so beschäftigt, dass sie wohl nichts bemerkt hatten. Schnell verließ der Ingenieur die Krankenstation.

Zwei Tage später, am Mittwoch den 25. Januar, betrat Stolz erneut die Station der Klinik, in der die an der sogenannten Schaufensterkrankheit leidenden behandelt wurden. Inzwischen hatte der Mann sich natürlich im Internet kundig gemacht und wusste deshalb, dass es sich um eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, also eine Arteriosklerose in den Beingefäßen handelte, die vor allen Dingen im Alter ab 55 Jahre auftrat. Das typische Symptom dieser Verengung der Schlagadern waren starke Schmerzen in den Beinen. Diese äußerten sich vorrangig bei körperlicher Anstrengung, dadurch mussten die Betroffenen beim Gehen häufig Pausen einlegen. Meistens wird diese Krankheit zu spät entdeckt und dann hilft nur eine Operation. Die besondere Gefahr dieser Krankheit lag darin, dass durch die verminderte Durchblutung, die Wunden an den Füßen schlechter heilten, im schlimmsten Fall konnte Gewebe absterben. Ist dies der Fall, muss das Gewebe schnell entfernt werden, da sonst eine lebensgefährliche Blutvergiftung drohte. Das kann bis zur Amputation führen, was diese Krankheit für die Betroffenen brisanter machte. Obwohl Rauchen als eine Hauptursache beizeiten erkannt worden ist, hält diese Aussicht viele Menschen nicht auf, vom Rauchen Abstand zu nehmen.

Stolz ging langsam den Flur entlang, an Prosts Zimmer vorbei bis zum Schwesternzimmer, das sich an einen mit großen Glasfenstern zum Flur hin abgetrennten Raum anschloss und auf Stolz den Eindruck machte, wie der Empfang in einem Hotel, nur eben nüchterner, was schon allein die weiße Farbe bewirkte. Die Tür, aber auch die Fenster zum Flur, standen offen. Stolz sah zwei Schwestern, die eine saß in der Mitte des Raumes am Tisch und schrieb, während die andere in der Nähe des offenen Fensters am Computer saß. „Entschuldigung, ich suche Frau Dorothea Ruge,“ Stolz wartete auf eine Reaktion und als die Schwester ihren Kopf zu ihm drehte, fügte er noch erklärend hinzu, „sie wollte noch mit mir sprechen.“

„Sie wird wohl im Arztzimmer sein,“ die Schwester zeigte nach rechts den Gang hinunter.

„Danke.“

Es war nur zwei Türen weiter auf der rechten Seite. Davor befand sich das Zimmer der Oberärztin Dr. Pannwitz.

Stolz war sich nicht sicher, ob er einfach anklopfen sollte, ging erst einmal weiter und überlegte, was er wohl sagen könnte. Plötzlich hörte er hinter sich, wie eine Tür geöffnet wurde, drehte sich um und sah Dorothea auf den Flur treten.

Sie bemerkte ihn sofort. „Hallo Herr Stolz, das Zimmer von Dr. Prost liegt doch in der anderen Richtung,“ schmunzelnd fügte sie noch hinzu, „vergessen?“

„Ach, ich war so in Gedanken, da bin ich wohl vorbeigelaufen.“ ‚Sie hat sich deinen Namen gemerkt‘, jubilierte es in ihm. Er musste sich zusammenreißen, denn er wollte nicht, dass sie ihm seine Freude darüber ansehen könnte.

„Kommen sie, ich wollte auch gerade zu…,“ sie zögerte einen Moment, „…ihrem Vorfahren?“ Lachend dreht sie sich um und schritt voraus, während Stolz ihr schnell folgte.

„Hallo Herr Prost, wie geht es ihnen?“ Die Assistenzärztin blieb an der Stirnseite des Bettes stehen.

„Abgesehen davon, dass die vielen Schläuche, die scheinbar aus meinem Körper zu kommen scheinen, mir Angst machen, ganz gut. – Ich muss sie auch noch etwas fragen.“

„Aber gerne, bitte fragen sie.“

Inzwischen stellte Stolz sich schweigend neben das Bett murmelte nur, „Tag Doc,“ und sah mit kribbelnden Gefühl zur Ruge.

Prost warf nur einen kurzen Blick auf seinem Besuch, „hallo Michael,“ dann konzentrierte er sich wieder auf die Ärztin. „So eine Halbnarkose war für mich eine vollkommen neue Erfahrung. Ich habe zwar nur die Schatten der zwei Frauen, die mich operiert haben, auf dem Tuch vor meinem Gesicht gesehen und auch die Worte nicht verstanden, die die beiden gewechselt haben, aber das lief alles derart ruhig ab, dass ich vollkommen entspannen konnte und die vier Stunden OP sind relativ schnell vergangen.“

„Ich weiß, dass haben sie uns gestern gleich nach der OP auch gesagt und sich bedankt. Das kommt nicht so oft vor und hat uns sehr gefreut.“

„Ja, leider hatten sie ja noch die OP-Tücher vor dem Gesicht, so dass ich sie gar nicht erkennen konnte. Sagen sie, wer war die zweite Frau?“

„Frau Oberärztin Dr. Pannwitz hat die OP geleitet.“ – „Ich habe nur assistiert“, fügte sie bescheiden hinzu.

„Ich sage ihnen noch einmal, Dankeschön. Die OP war für mich eine neue Erfahrung und außerdem für mich, den Patienten, fast – ein Kinderspiel.“

„Das ist doch unsere Aufgabe Herr Prost,“ während sie sprach begutachtete sie den Verband, der das gesamte linke Beine von oben bis unten umgab, „wichtig wird sein, wie sich das alles weiterentwickelt und wie letztendlich der Effekt für sie sein wird.“

„Ja, da bin ich auch gespannt.“ Prost warf einen kurzen Blick zu seinem Kollegen, doch der hatte nur Augen für die Ruge. „Es ist schön, dass sie meine eigene Ader wiederverwenden konnten.“

„Ja, das hat uns auch überrascht, weil wir das nach Auswertung der Röntgenbilder eigentlich nicht erwarten konnten,“ nun begutachtete sie die Schläuche, die unter dem Verband hervorkamen und in kleinen Beutelchen endeten. Als letztes warf sie einen Blick auf den Katheder in dem sich der Urin sammeln konnte. „Aber so, mit ihrer eigenen Ader, ist es tatsächlich besser, weil auf diese Art der angestrebte Effekt noch günstiger ausfallen könnte.“

„Ich werde Frau Pannwitz morgen bei der Visite das auch noch einmal sagen.“ Prost sah die Ruge an, „na, alles in Ordnung?“

„Ja, ja. Alles okay. Ich lasse sie jetzt mit ihrem Besuch allein. Danach muss ich noch den nächsten notwendigen Schritt mit ihnen besprechen.“ Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

„Dr. Prost…,“ Stolz wollte ein Gespräch beginnen, obwohl er gar nicht recht wusste, was er sagen sollte-

„Michael,“ Prost unterbrach sofort seinen Kollegen, „erstens habe ich dir von Anfang an gesagt, dass du natürlich auch du zu mir sagen kannst, wenn ich das tue, denn andernfalls muss ich dich auch wieder siezen.“ Prost hob kurz die rechte Hand, um Stolz am Sprechen zu hindern, „und zweitens muss du dich nicht lange hier bei mir aufhalten. Geh der Ruge hinterher, bevor sie irgendwohin verschwindet. – Ihr passt beide gut zusammen, glaube ich,“ fügte Prost lächelnd hinzu.

„Ja, du hast schon recht Doc. Ich bin eigentlich wirklich nur wegen Dorothea wieder hier.“ Erschrocken über seine ehrlichen Worte sah er Prost entsetzt an.

Doch der lachte, „sag ich doch.“

„Die alten Hasen in der Anlage haben schon recht mit ihrer Meinung zu dir…“

„Genug, jetzt hau schon endlich ab.“ Prost drehte den Kopf auf die Seite, mehr traute er sich noch nicht zu bewegen.

Stolz überlegte noch einen kurzen Moment. „Mach’s gut Doc.“ Dann verließ er leise den Raum.

Der Flur war leer. ‚Verdammt.‘ Stolz überlegte kurz, ging dann zurück zum ‚Empfang‘ und atmete auf, als er die Ruge sah.

Die hatte wohl genauso auf ihn gewartet, denn sie kam gleich auf den Flur zurück, „ich habe noch ein paar Minuten, gehen wir da hinten in den Besucherraum?“

„Ja, natürlich. Mein Doc hat…“

„Das scheint ein erfahrener Mann zu sein?“ Die Ruge sagte das lächelnd, so dass Stolz ganz schwummrig wurde.

Er sah die Frau an. „Und hat er recht?“

„Ich kann zwar nur raten, was er gesagt hat, aber da du, entschuldige…“

„Ach was entschuldige. Das du ist schon richtig. – Und ja, er hat mich dir gleich hinterhergeschickt,“ fügte er lachend noch hinzu.

„Die OP war auch für mich eine gute Erfahrung.“ Die beiden standen auf dem Flur der Station uns sahen sich in die Augen. „Eine derart lange Arterie können wir nicht allzu oft so komplett retten.“

„Was ist eigentlich die Ursache für die Schaufensterkrankheit?“ Die Frage war ihm einfach so rausgerutscht, denn sein Blick verlangte nach etwas ganz anderem.

„Arteriosklerose entsteht,“ begann die Ruge mit leicht leuchtenden Augen sofort zu erklären, obwohl ihr der Blick des Mannes nicht entgangen war, „wenn Fett in die Gefäßwände eingelagert wird, was vor allem durch zu hohe Blutfettwerte begünstigt wird, die durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel oder durch genetische Defekte bedingt sein können. Ebenso erhöhen Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Übergewicht das Risiko für eine Gefäßverengung.“

„Ist nach der OP alles wieder im Lot oder was muss der Patient tun?“ Stolz blieb beim Thema, weil er mit Erstaunen feststellte, dass ihm diese Art von Gespräch mit der schönen Frau gefiel.

„Nein, zum ersten Teil der Frage,“ das Leuchten der Augen der Frau verstärkte sich und es kam ihr darauf an, dem sie immer mehr interessierenden Mann überzeugend zu antworten, „denn wenn es erst einmal so weit gekommen ist, dass operiert werden musste, dann ist die Krankheit schon so vorangeschritten, dass sie nur noch eingedämmt, aber nicht vollständig ausgeräumt werden kann.“ Die Ruge dachte kurz nach, ohne ihren Blick zu senken. „Zum zweiten Teil deiner Frage kann ich nur so viel sagen, dass alles Weitere ab jetzt maßgeblich von ihm selbst abhängt. Bewegung, Bewegung, Bewegung. Das ist das A und O.“

„In Bewegung bleiben ist sicher für jeden Menschen in jedem Alter wichtig,“ stellte Stolz trocken fest.

„Ja, richtig,“ bestätigte die Ruge, „aber im Alter, und erst recht bei einer solchen Krankheit, ist das umso wichtiger.“

„Ich denke, das sollte für den Doc kein Problem sein.“ Und weil die Ärztin ihn fragend ansah, ergänzte er noch, „wenn das, was ich von meinen Kollegen über ihn gehört habe, stimmt, wird er diese Forderung auf alle Fälle erfüllen.“

„Das würde mich für ihn freuen.“ Die Ruge senkte nur kurz den Blick, um dann mit neuem Leuchten in den Augen fortzufahren, „aber jetzt möchte ich gern dir eine Frage stellen.“

„Nur zu.“

Beide mussten zur Seite treten, weil ein Krankenpfleger mit einem Patienten im Bett den Flur entlang kam. Erst dann redete die Ruge weiter. „Was macht ihr denn in eurem OPA Industrial und was speziell machst du?“

„Wir produzieren VC,“ Stolz bemerkte den fragenden Blick der Ruge und fuhr lächelnd fort, „das ist der Grundbaustein für einen speziellen Plast, also in unserem Falle wird daraus durch Polymerisation PVC, also Poly-VC. Ich arbeite in der V-Fabrik als Ingenieur zur Betreuung der Anlage.“

„Darüber würde ich gern mehr erfahren, wenn es erlaubt ist.“ Die Ruge sah Stolz fragend an.

„Es ist erlaubt und ich würde nichts lieber tun.“ Er beobachtete den interessiert gespannten Gesichtsausdruck der Frau und hatte plötzlich das Empfinden sofort etwas dafür tun zu müssen, damit er sie nicht wieder aus den Augen verlieren konnte. „Und doch habe ich vorher eine Frage an dich.“ Er wartete eine Sekunde, „darf ich dich zu einem gemütlichen Essen einladen, Dorothea?“

„Doro, meine Freunde sagen alle Doro zu mir. Ja. Aber, ob Essen oder nicht, wir sollten uns treffen, denn ich muß mich jetzt schnell auf der Station wiedersehen lassen.“

„Morgen …“

„Morgen kann ich leider nicht, aber am Sonnabend habe ich frei.“

„Dann könnten wir uns ja schon früher treffen?“ Stolz sah die junge Frau an und da er nichts Gegenteiliges aus ihrer Miene ablesen konnten fuhr er fort, „vielleicht um 14 Uhr am Händeldenkmal auf dem Markt?“

„Einverstanden,“ sagte die Ruge schnell und reichte dem Mann die Hand, „also dann bis Sonnabend. – Auf Wiedersehen.“

Und schon war sie verschwunden.

„Tschüss!“ rief ihr Stolz hinterher, „murmelte dann nur noch, „ich freue mich.“

Er stand ebenfalls auf und verließ langsam den Raum.

B. Schlink, Die Frau auf der Treppe

Rezension Nr. 3

zum Roman ‚Die Frau auf der Treppe‘ von Bernhard Schlink

Inhalt:

Der Ich-Erzähler, Anwalt einer Frankfurter Kanzlei, erlebt als junger Mann im Sommer 1968 eine merkwürdige Geschichte: Damals willigte er ein, einen Vertrag aufzusetzen, der ein Tauschgeschäft – ein Akt-Gemälde gegen eine davongelaufene Ehefrau – zum Inhalt hatte. Nach mehr als 40 Jahren trifft er die Frau und die ‚Tauschpartner‘ wieder.

 

Kritik: … unsere Welt ändert sich nicht mehr …?

Wenn ich, Anni Kloß, ein Buch vom Diogenes Verlag in die Hand nehme, bildet sich in meinem Kopf automatisch eine ganz bestimmte Vorstellung über das, was ich noch gar nicht gelesen habe. Schon durch die äußere Gestaltung des Covers strahlt der Roman  ein ganz eigenes Flair auf mich aus. Beim heute rezensierten Buch erinnere ich mich noch daran, weil ich dieses Empfinden gleich am Anfang aufgeschrieben habe: künstlerisch verträumt, vorrangig in der Gegenwart spielend, aber mit einem Hauch vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts versehen. Die Frau stellt sich mir bildlich wie eine von Tucholskys Frauenfiguren dar. Ich weiß deshalb, dass ich Geduld mit mir haben muss, weil mich bei einem solchen Vorgefühl schnell Langeweile beim Lesen anspringt. Das war auch dieses Mal wieder so.

Doch auf Seite 143, als ich über Irenes Aufenthalt in der DDR las, regte ich mich zuerst auf, weil Schlink die DDR als ein totes Land beschreibt (vor dem der Westen scheinbar immer noch solche Angst hat). Zuerst dachte ich, dass der Autor nur schlecht recherchiert hat, denn er vergleicht das Leben in der DDR mit einer täuferisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft, einem Biedermeier-Idyll!? – Doch dann erfahre ich, dass die Frau als eine von der BRD gesuchte Terroristin in der DDR untergetaucht war. Das änderte für mich die Situation von Grund auf, und zwar zum Positiven hin, denn mit den Vorstellungen eines solchen Menschen konnte ich die Darstellung der DDR verstehen.

Die Beschreibung der Gegenwart wird vom Kapitalismus beherrscht. Der Mann, der seine Ehefrau gegen das Bild ‚Die Frau auf der Treppe‘ zurücktauschen will, ist steinreicher Kapitalist, der genau weiß, dass die Parteien CDU und SPD seinen Besitz und seine Macht sichern werden: „…Die Geschichte geht weiter. Aber unsere Welt ändert sich nicht mehr …“ (Seite 156).

Der inzwischen erfolgreicher Maler, der das Bild, das er gemalt hat, gegen die Frau, die mit ihm durchgebrannt war, wieder zurückhaben will, hat der Ideologie des Kapitalisten: „Sie sind der Künstler, dem alles zu Gebot steht und der von allem Gebrauch macht und zu dessen Kunst es keine Alternative mehr gibt …“ (Seite 157), außer Sympathie für die Linken, „… die schönen klugen Frauen aus gutem Haus, die sich damals zu den Linken geschlagen haben, aus politischer Überzeugung und weil sie spürten, wo die Avantgarde ist, wo es lebendig und prickelnd zuging …“(Seite 159), nichts entgegenzusetzen.

Der erfolgreiche Rechtsanwalt, der das Tauschgeschäft anwaltlich begleitet hatte, der sich auch in das Weib verliebte, aber bei der Frau als Mann nicht zum Zuge kam, kümmert sich in der Gegenwart um die inzwischen schwer kranke Frau. Er wird vom Kapitalisten abgefertigt: „… Teure Kanzlei, ich weiß, große Fälle, aber immer für andere die Drecksarbeit erledigen – Sie sind ein Lakai. Zuerst waren sie seiner (nickt zum Maler), dann meiner, dann ihrer (zur Frau). Sie halten am besten den Mund …“ (Seite 162)

Schlink schreibt wie gewohnt flüssig, die Handlungsorte passen, der Bezug zur Realität ist gegeben.

Der 70-jährige Autor hat mit der Grundstory eine gute Möglichkeit gefunden, über sein Leben zurückblickend zu philosophieren.

Das ist ihm im großen Ganzen so gelungen, dass es gut lesbar ist.

Bewertung:

  1. Inhalt, Story (Faktor 1): Die Thematik ist interessant, die Story gut entwickelt und logisch aufgebaut.

Bewertung: 4

  1. Der Sachverhalt (Faktor 1), die Situation der Hauptpersonen, die Schilderung der Gesellschaft entspricht der Realität. Auch die Konstruktion des Romans ist nachvollziehbar.

Bewertung: 4

  1. Der Stil (Faktor 1) ist flüssig, nach anfangs etwas langweilig, aber dann interessant.

Bewertung: 4

  1. Recherchen (Faktor 0,5) rufen keinen Widerspruch beim Leser hervor.

Bewertung: 3

  1. Die Handlungsorte (Faktor 0,5) sind ausreichend gut beschrieben.

Bewertung: 3

  1. Kritische Aspekte zur existierenden Realität, zur Politik, zum Leben der Menschen und Hinweise zum Bessermachen (Faktor 1): Es sind gute Ansätze dazu vorhanden, aber warum glaubt der Autor, dass unsere Welt sich nicht mehr ändert? Die Hauptaussage der dialektischen Grundgesetze der Entwicklung ist doch meines Erachtens, dass das Erkennen ein unendlicher Prozeß ist. – Oder?

Bewertung: 2

Summe Bewertung: 3