Leseprobe B7

1 – Eiskalt

  1. April 2002, OPA-Werk
D

er Mann schreckte aus seinen Gedanken über den bevorstehenden Anfahrprozess hoch, als der PC ihn an die Besprechung mit seinem Chef Willi Löwe erinnerte. ‚Was wird er von mir wollen?‘, fragte er sich zum wiederholten Mal, seit er den Termin vor ein paar Tagen erhalten hatte und gestand sich nur wiederwillig ein, dass es um seine Ablösung gehen könnte.

Der Leiter der V-Fabrik Dr. Thomas Prost war sich ziemlich sicher, dass das so sein würde.

Der schlanke, promovierte Ingenieur, der immer kurz geschnittene Haare bevorzugte, die sich inzwischen zusehends gelichtet hatten und der trotz sportlicher Figur und der Größe von einem Meter achtzig eine eher unauffällige Erscheinung war, arbeitete bereits seit dem Bau der Fabrik im Jahr 1978 in der C-V-Anlage. Prost liebte es, wenn er richtig mit zupacken konnte, wenn Probleme zu lösen waren, die ganz und gar in seiner Verantwortung lagen. Die Weltanschauung dieses Mannes war geprägt worden durch katholische Erziehung, sozialistische Schule, Bücher mit progressivem, humanistischem und materialistischen Gedankengut sowie seine praktischen Lebenserfahrungen, die er sich bei der Armee, auf einer Bohranlage, bei der Arbeit an der Hochschule und natürlich während seiner praktischen Tätigkeit in verschiedenen Positionen in der V-Fabrik erworben hatte. Der zum 2. Mal, mit der gleichen Frau, verheiratete Prost, Vater von 4 Söhnen, von denen bereits 3 erwachsen waren und eigene Familien gegründet hatten, fühlte sich wohl mit seinem Job und glaubte noch Kraft genug, für die nächsten Aufgaben zu haben.

Kurz vor 14 Uhr machte Prost sich auf den Weg zu seinem Boß.

Löwe war 1995, als OPA Industrial das LUNA-Werk übernommen hatte, vom Bord of Directors zum Chef für alle Produktionsanlagen dieses Werkes ernannt worden. Der Manager war ein flinker und kluger junger Mann mit Schnauzbärtchen, untersetzter Figur, nicht größer als einen Meter 80, der beim Sprechen gern mit bestimmten Gesten seiner Hände den Worten mehr Verständlichkeit geben wollte. Der circa 40-jährige Löwe, so alt wie Prosts ältester Sohn, hatte bereits eine schnelle Karriere hinter sich. Der Job in LUNA war für viele OPA-Leute, natürlich auch für Löwe, ein entscheidender Karrieresprung. Notwendigerweise war der Manager auf eine gute fachliche Zusammenarbeit mit den Anlagenleitern angewiesen, weil er selbst mit diesen Technologien noch nichts zu tun gehabt hatte. Das klappte in der Regel auch, sodass sich ein gutes Verhältnis zwischen Löwe und den Betriebsleitern entwickelt hatte.

Der Chef kam Prost entgegen und drückte ihm die Hand. „Hallo Thomas, schön, dass du trotz des Ausfalls der Anlage gekommen bist.“

‚Das wird sich noch zeigen, ob das schön ist‘, dachte Prost und sagte laut, „was soll man machen, wenn der Chef ruft?“

„Setz dich, Thomas. Läuft denn die Anlage wieder?“

„Meine Leute sind zwar schnell, aber so schnell auch wieder nicht. Die Vorbereitungsarbeiten zum Neustart brauchen schon ihre Zeit, Willi. Aber die notwendigen Arbeiten laufen. Wir sind ein eingespieltes Team und unsere Leute arbeiten gut. – Noch sind es ja genug.“

„Ohne Spitze geht es nicht bei dir, was? – Wie steht es mit der Leichtsiederkolonne?“

„Ach, die siedet so leicht vor sich hin. Gott sei Dank, ohne gleichzeitig zu polymerisieren.“

„Das bedeutet, dass ihr das Problem gelöst habt?“

„Wir hoffen es.“

„Das freut mich.“

Nach kurzer Pause setzt Löwe das Gespräch fort. „Du bist jetzt sechsundfünfzig Jahre alt?“

„Da muss ich erst rechnen.“ Prost sah demonstrativ auf seine Finger. „Du könntest Recht haben.“

„Ich werde dich noch in diesem Jahr als Betriebsleiter der V-Fabrik ablösen.“

Obwohl Prost damit gerechnet hatte, gab ihm dieser Satz einen Stich ins Herz, aber er zuckte nicht mit der Wimper.

Das glaubte er zumindest.

„Dann kannst du dich ganz auf das Anfahren von Anlage 2 konzentrieren. – Danach gehst du in Altersteilzeit.“

„Wer wird mein Nachfolger?“

„Eigentlich hatten wir Harry Kupfer darauf vorbereitet. Aber wir haben unsere Pläne geändert. Dein Nachfolger wird Jose Amado.“

Prost, dem vor Staunen kurz der Mund offen stehen geblieben war, schüttelte den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst, Willi?“

„Aber ja. Traust du ihm das nicht zu? Ich kenne Jose schon lange. Das sollte kein Problem für ihn sein.“

Prost dachte, ‚das könnte auch für ganz andere Leute ein Problem sein‘. „Ich habe ihn nur kurz kennengelernt. Das war nicht überzeugend.“

Als Sohn wohlhabender Eltern hatte der in Buenos Aires geborene Amado in den USA Chemical Engineering studieren können. Nach erfolgreichem Abschluß seines Studiums erhielt er einen Job bei OPA Industrial und war inzwischen schon in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichsten Aufgaben eingesetzt worden. Seit 1995 konnte er sich in LUNA Lorbeeren verdienen und war sich für keine Aufgabe zu schade. So musste Amado sich am Anfang mit der Einführung der OPA Works Prozesse am neuen Standort beschäftigen, einem total bürokratischen Vorgang, der vergleichbar war mit der Auswertung und Durchsetzung von SED-Parteitagsbeschlüssen. Bei einer solchen Aktion hatte Prost den Argentinier Amado kennengelernt. Aber der strebsame, inzwischen 50-jährige Mann kalkulierte richtig, dass man ihm dafür früher oder später doch einen Führungsposten zukommen lassen würde.

„Die Sache ist entschieden!“, sagte Löwe betont energisch, „ich gehe davon aus, dass du ihm hilfst, sich einzuarbeiten. Jose ist fleißig und lernt schnell.“

„Was wird mit Kupfer?“

„Harry bleibt im Projektteam für Anlage 2, bis diese angefahren ist. Dann wird er wieder Produktionsingenieur in der V-Fabrik. Hast du sonst noch Fragen?“

Der diplomierte, 50-jährige Chemiker Kupfer war zehn Jahre jünger als Prost und ein stattlicher, attraktiver Mann. Nach der Zusammenlegung der beiden Abschnitte C und V Anfang 1991 wurde der ehemalige Leiter des Bereichs C der zuständige Fachingenieur für die Anlagenteile Direktchlorierung, C-Destillation, Rückstandsverbrennung und später auch der Oxichlorierung. Außerdem war Kupfer bereits vor 12 Jahren Prosts Stellvertreter geworden, seit der den Job als Betriebsleiter der V-Fabrik übernommen hatte.

„Wann kommt Jose zu uns in die Anlage? Wieviel Zeit gibst du ihm zur Einarbeitung?“

„In zwei Monaten kommt er zu euch. Ende des Jahres wird er Leiter der Fabrik und du bist dann nur noch Anfahrleiter für Teilanlage 2. Also hat er etwa vier Monate zur Eingewöhnung.“

„Okay Willi, war’s das?“

„Ja. – Du hast es wohl eilig?“

‚Ich will nur raus aus deinem Dunstkreis‘, dachte Porst und antwortete laut, „nein, aber erstens wollen wir ja die Anlage nach dem Ausfall wieder anfahren und zweitens muss ich unbedingt noch heute mit den Bleistiften von Mitschke sprechen.“

Löwe lachte ein wenig. „Wer sind die Bleistifte?“

„Das sind die linke und die rechte Hand des Teufels. Hervorragende junge Ingenieure, ohne die der Satan aufgeschmissen wäre. Doch die beiden sind ihm treu ergeben. Trotzdem arbeiten sie auch sehr gut mit uns zusammen.“

„Siehst du ernste Schwierigkeiten mit Mitschke als Projektleiter, Thomas?“

„Ich weiß nicht, warum ihr das nicht verhindert habt, Willi, dass der Ossis verachtende Wessi, Projektleiter anstelle von Blücher werden konnte. Jetzt ist es für Änderungen sowieso zu spät. Es wird haarig zugehen, aber wir kriegen das in den Griff. – Eben auch wegen der Bleistifte.“ Prost war bei seinen letzten Worten aufgestanden.

„Okay, Thomas, ich hoffe, dass du recht hast. Viel Erfolg.“

„Danke, gleichfalls.“

Sie drückten sich die Hände und Prost verschwand aus Löwes Büro.

Draußen atmete er erst einmal tief durch.

‚Der ist ja eiskalt’, dachte Prost, ‚ob dem gar nicht klar ist, wie demotivierend das auf mich wirkt in Bezug auf die nicht ganz anspruchslose Aufgabe der Leitung des Anfahrens der neuen Anlage? Oder ist ihm das scheißegal?’

Doch im Unterschied zu seinen OPA-Managerkollegen hatte Löwe wenigstens den Mut gehabt, diese negative Sache selbst zu regeln und nicht die ehemaligen DDR-Personalleute dafür vorzuschieben. Solche Fälle hatte der Betriebsleiter schon mehrfach mit Abscheu beobachtet.

Wie der Zufall es wollte, traf Prost bei seiner Rückkehr zum neuen Messwartengebäude seinen Freund, seinen langjährigen Stellvertreter und C-Experten Harry Kupfer bereits auf dem Parkplatz an. Das war gut, denn hier konnten sie ungestört reden.

Prost sagte sofort, was Sache ist. „Soeben hat mich Löwe als Leiter der C-V-Anlage abgelöst. Mein Nachfolger wird Jose Amado.“

Kupfer sah Prost in die Augen. „Ich habe mir schon beinahe so etwas gedacht …“ Er stutzte. „Wer wird dein Nachfolger?“

„Jose Enrico Amado.“

Kupfer lachte kurz auf. „Das ist nicht dein Ernst. – Dass ich das nicht sein werde, das ahnte ich schon und bin damit auch zu frieden. Früher wollte ich das, aber inzwischen habe ich es mir anders überlegt. – Aber Amado? Das kann doch nicht gut gehen. Was denkt sich Löwe dabei? Ich habe Willi bisher immer für einen vernünftigen Menschen gehalten. Soll ich mich da so geirrt haben?“

Prost klopfte Harry auf die Schulter. „Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass du so gelassen reagierst. Ich hätte dich gern als meinen Nachfolger gesehen, aber die Personalpolitik von OPA ist noch bescheuerter, als die Kaderpolitik zu DDR-Zeiten. Das hat mit fachlicher und charakterlicher Eignung absolut nichts zu tun.“

Harry schüttelte den Kopf. „Ich bin immer noch sprachlos. – Wann soll das zur Wirkung kommen?“

„In zwei Monaten kommt Amado zur Einarbeitung. Ende des Jahres soll er die Leitung übernehmen und ich bin dann nur noch Anfahrleiter. Wenn auch der zweite Teil der Anlage läuft, soll ich in Altersteilzeit gehen und werde aufs Altenteil geschoben, was auch immer das bedeutet.“

Kupfer sah wieder Prost in die Augen. „Du nimmst das sehr ruhig auf? Ich staune.“

„Harry, es geht mir nur, wie allen anderen auch. Das ist halt heute so und ändern kann ich ohnehin nichts daran. Also, was soll’s?“

Dass es in Prost doch etwas anders aussah, wollte er sich auf keinen Fall anmerken lassen. Damit musste und wollte er ganz allein fertig werden.

Nach einer kurzen Pause fragte er Kupfer, „was hast du dir bezüglich Oxichlorierung überlegt, Harry?“

Der nahm seinen Helm vom Kopf. „Lass uns zusammen noch einmal in der Messwarte auf die Anzeigen sehen und dann entscheiden wir, was zu tun ist.“

Kupfer ging vorne weg und Prost folgte ihm immer noch mit den gleichen Gedanken beschäftigt.

Diese Art Personalpolitik lief wohl nach dem Motto:

‚Einen Finger kann man brechen. ‘ (1)

Prost kannte zwar auch den 2. Teil des Spruchs von Ernst Thälmann: ‚Fünf Finger sind eine Faust‘ (1), aber in diesem Falle war er ein Alleinkämpfer, da konnte ihm niemand helfen.

 

2 – Sich fügen heißt lügen

  1. Mai 2002, Düsseldorf
E

ine Gruppe aneinander geketteter Frauen und Männern marschierte mitten im Demonstrationszug auf der Straße und skandierte:

„10 Prozent! 10 Prozent! 10 Prozent!“

Ein Mann im schwarzen Anzug, mit ebenso schwarzem Schlips und großem schwarzen, zylinderförmigem Hut schritt Zigarre rauchend majestätisch vor dieser Gruppe einher.

Eine andere Person, bekleidet mit einem T-Shirt, auf dem in Großbuchstaben DGB stand, löste sich aus der Gruppe und Schloß zu dem Hutmann auf.

„Herr Kapitalist erhöhen sie den Lohn der Arbeiter auf 10 Prozent?“

Der Gefragte schüttelte den Kopf und nahm erneut einen tiefen Zug aus seiner Zigarre.

Die Arbeiter fordern weiter:

„10 Prozent! 10 Prozent! 10 Prozent!“

Plötzlich dreht sich der Kapitalist um, zeigte willkürlich auf die Frau in der Gruppe der Arbeiter und brüllte:

„Sie sind gefeuert! Gefeuert!“

Betrübt ließen die Arbeiter die gefesselten Arme sinken.

Die kleine Theatergruppe ‚Massaka‘ (2) wiederholte diese Szenen im Verlaufe der Demonstration immer wieder.

Plötzlich stürzten sich vermummte Gestalten auf den Hutmann, den Kapitalisten, rissen ihm die Zigarre aus dem Mund und zerrten an seinem Anzug. Im Unterschied zu den Zuschauern auf den Gehwegen wusste die Gruppe, dass das nicht zu ihrer Vorstellung gehörte.

Die meisten Schauspieler blieben entsetzt stehen und warteten unentschlossen ab, während die soeben vom Unternehmer gefeuerte Person sich mutig auf die Angreifer stürzte und versuchte, ihrem Theaterfreund zu helfen. „Ihr Idioten! Das ist doch einer von uns! Lasst ihn zufrieden!“

Die temperamentvolle Frau versuchte sich zwischen die Männer zu drängeln, um an ihren Kollegen heranzukommen, doch derbe Faustschläge warfen sie zurück und sie landete auf der Straße. Schnell rappelte sie sich auf und stürzte sich erneut auf die Vermummten.

Sie wäre unweigerlich wieder auf der Straße gelandet, wenn ihr aus dem Publikum nicht zwei junge Männer zu Hilfe gekommen wären. So wurde das Kräfteverhältnis ausgeglichener.

Der eingekreiste Hutmann, inzwischen natürlich ohne Hut, kam frei, und als die vier Verteidiger sich nun gemeinsam wehren konnten, stürmten die Vermummten plötzlich davon.

Nur eine Sekunde später stoppte ein kreischendes Polizeiauto, vier Polizisten sprangen heraus und nahmen die aus dem Kampf zurückgebliebenen drei Männer und eine Frau fest, obwohl die eigentlich die Opfer des Überfalls waren.

„Sie sind von uns auf frischer Tat wegen Unruhestiftung erwischt worden und werden deshalb vorläufig festgenommen!“, sagte emotionslos ein Obermeister.

„Seid ihr denn total bescheuert?“, schrie die Frau, „wir wurden angegriffen!“ Sie zeigte in eine Seitenstraße hinein. „Da! Da hinten laufen die Angreifer!“

Die Polizisten ließen sich von ihrem Tun nicht abbringen, sie legten den Verhafteten Handschellen an.

Während die Männer schwiegen, schimpfte die Frau weiter, „machen sie sofort die Handschellen wieder ab. Da“, sie zeigte auf den Mann im nunmehr zerrissenen schwarzen Anzug, „der ‚Kapitalist‘ ist überfallen worden und wir haben ihm geholfen. Also?“

Für einen Moment stutzten die Polzisten, tauschten untereinander Blicke aus, doch dann schüttelte der Obermeister seinen Kopf und fragte, „können sie sich ausweisen?“

„Soweit kommt das noch! Wir! Verdammt noch mal! Wir sind die Guten!“, schrie die Frau und wollte sich losreißen, aber ein Polizist hielt sie fest.

„Bitte verhalten sie sich ruhig“, sagte der Oberpolizist und wandte sich seinen Kollegen zu, „wir nehmen alle mit aufs Revier. Dann sehen wir weiter.“

Immer noch schimpfend ließ sich die Frau zu den anderen ins Auto schieben.

Am Nachmittag des gleichen Tages saß Paula Peters ihrem Partner, dem Privatdetektiv Mike Hammer, alias Ernst Wolf, in der kleinen gemütlichen Sitzecke ihres Büros gegenüber. Beide hatten ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch zu stehen.

„Du siehst ganz schön verbeult aus, Äpfelchen“, Wolf grinste seine attraktive Mitarbeiterin schelmisch an.

„Danke Wölfchen, dass du uns da raus geholt hast und nicht nur mich, sondern auch meinen Kollegen vom Theater und die beiden uneigennützigen Helfer.“

„Ja, die zwei, die dir und deinem Freund geholfen haben, sind sympathische junge Leute, obwohl sie schon ein ziemlich langes Strafregister aufweisen können.“

„Umgekehrt Ernst. Gerade deshalb sind sie sympathisch.“

„Möglicherweise hast du Recht Paula. Du hast sie schon vorher gekannt?“

„Nein, aber stell dir vor, was passierte, als ich in der Zelle begann, Erich Mühsams Gedicht ‚Der Gefangene‘ zu zitieren:

Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,

mich fremdem Zwang zu fügen.

Jetzt haben sie mich einkasernt,

von Heim und Weib und Werk entfernt.

Doch ob sie mich erschlügen:

      Sich fügen heißt lügen! ‘

Das ernste Gesicht meines Theaterkollegen hellte sich auf und er fuhr fort:

Ich soll? Ich muß? – Doch will ich nicht

nach jener Herrn Vergnügen.

Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.

Rebellen kennen beßre Pflicht,

als sich ins Joch zu fügen.

      Sich fügen heißt lügen! ‘

Aber dann haben wir beide dumm aus der Wäsche geguckt, als die beiden das Spiel fortsetzten. Erst der eine, Alexander Schuster:

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,

der folgt, mich zu betrügen,

mir in den Kerker ohne Scham.

Ich soll dem Paragraphenkram

mich noch in Fesseln fügen.

      Sich fügen heißt lügen! ‘

Und dann der andere, Daniel Hoffmann:

Stellt doch den Frevler an die Wand!

So kann’s euch wohl genügen.

Denn eher dorre meine Hand,

eh ich in Sklavenunverstand

der Geißel mich sollt fügen.

      Sich fügen heißt lügen! ‘

Gemeinsam zitierten wir, zwischendurch lachend und deshalb wohl auch ziemlich unrhythmisch, die letzte Strophe des Gedichts:

Doch bricht die Kette einst entzwei,

darf ich in vollen Zügen

die Sonne atmen – Tyrannei!

Dann ruf ich’s in das Volk: Sei frei!

Verlern es, dich zu fügen!

      Sich fügen heißt lügen! (3)‘

Was sagst du dazu, Ernst?“

„Das Gedicht gefällt mir. Damit werde ich beim nächsten Treffen Balla überraschen.“

„Das kennt unser Seemann bestimmt!“

„Trotzdem wir er sich wundern, dass ich es auch kenne. Kannst du mir das Gedicht aufschreiben?“

Die Peters reichte ihm wortlos ein kleines Reclamheftchen.

„Das ist gut. Danke. – Aber lassen wir das. – Was weißt du noch von deinen Rettern? Das sind ja beides stattlicher Kerle, über einen Meter 95 groß.“

„Daniel Hoffmann …“

„Ist das der Rötlich-blondlockige?“

„Nein, das ist der andere, Alexander Schuster. Daniel ist der etwas schlankere, dunkelhaarige Mann mit braunen Augen. Er will Schauspieler werden. Na ja, eigentlich sogar Regie studieren. Aber du kannst dir vorstellen, dass es sehr schwer ist, dafür einen Studienplatz zu bekommen. Also hat er nach dem Abitur, das er vor fünf Jahren abgelegt hat, schon in etlichen Jobs gearbeitet.“

„Das ist ja interessant. Was sind denn seine Eltern von Beruf?“

„Der Vater arbeitet in der Geschäftsführung der Henkel AG in Düsseldorf und verdient genug Geld, sodass die Mutter nicht arbeiten muss. Allerdings kommt wohl aus ihrer Richtung der künstlerische Tatsch des Sohnes, denn die Frau hat Kunst und Musik auf Lehramt studiert, aber diesen Beruf nicht lange ausgeübt. Sie besitzt jetzt ein kleines Atelier, in dem sie sich vor allen Dingen mit Malerei beschäftigt. Das kann Daniel übrigens auch nicht schlecht. Der hat uns vier in der Zelle verewigt …“

„Ha, ha, ha, verewigt, morgen wird die Zelle neu geweißt …“

„Stimmt, aber auf alle Fälle waren unsere Gesichter erkennbar. – Schade.“

„Und was ist mit dem anderen?“

„Der etwas bulligere Alexander Schuster, also der mit dem rötlichen Schopf, ist ein Jahr älter. Er hat 1996 in seinem Geburtsort Bochum Abitur gemacht. Er liebt jede Art von Musik, und obwohl er auch in die Mathematik vernarrt ist, möchte er am liebsten Komposition studieren. Es geht ihm diesbezüglich aber wie Hoffmann, denn auch er hat sich bisher vergeblich an Universitäten und Hochschulen beworben. Deshalb hat Alex ebenfalls bereits in verschiedenen Jobs gearbeitet, unter anderem auch bei der Boechst in der Nähe von Köln, was ihm auch sehr gut gefallen haben soll. Bei seinen Eltern verhält es sich genau umgekehrt, da betätigt sich der Vater als heimlicher Künstler, obwohl er als Lohnarbeiter bei der Adam Opel AG beschäftigt ist. Die Stille Liebe des alten Herrn gilt ebenfalls der Musik, er kann mehrere Instrumente spielen und hat auch schon eigene Lieder und Gedichte für den Hausgebrauch verfaßt.“

„Wieso sind die beiden …“ Wolf brach ab, „… Quatsch! Ich wollte gerade die Frage stellen, wieso die beiden denn dann ständig mit der Polizei zusammengestoßen sind? Aber das zu fragen ist Unfug, denn den jungen Leuten sind ihre Eltern sicher zu angepaßt, zu spießig, zu …“

„… intolerant. – Es ist so, wie bei vielen jungen Leuten. Sie wollen gegen die etablierte Gesellschaft revoltieren! Am ehrlichsten finden unsere zwei anarchistische Ideen. Alles andere kommt ihnen spießig vor. Mir geht es ja eigentlich genauso, aber ich verurteile die Eltern nicht.“

Nach diesen Worten schwiegen beide für ein paar Minuten.

Die inzwischen über 40-jährige, aber immer noch sehr jugendlich wirkende Frau, musste an ihre Sturm und Drangzeit vor nunmehr 20 Jahren denken und vermerkte mit Befriedigung und ein wenig Stolz, dass sie sich ihre revolutionäre Grundhaltung bewahrt hatte.

Paula Peters brach 1977 ihr Studium an der juristischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum im vierten Jahr ab. Sie Schloß sich demonstrierenden Studenten an, die gegen die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart protestierten und versuchte sich der Organisation anzuschießen, aber das gelang ihr nicht. Bevor die junge Frau im September desselben Jahres in einer fast dramatischen Begegnung auf Ernst Wolf traf, verdiente sie für kurze Zeit ihren Lebensunterhalt durch Prostitution. Fast jeder, der Paula Peters das erste Mal traf, fand sie beinahe häßlich. Sie besaß zwar schöne dunkle, nahezu schwarze Haare, aber das herbe, nüchterne, fast kantig wirkende Gesicht verbunden mit der sehr schlanken, ihre weiblichen Formen scheinbar versteckenden Figur ließen sie ziemlich nüchtern und viel älter aussehen, als sie tatsächlich war. Sobald sie aber lächelte und sich bewegte verwandelte sich die Frau in einer zehntel Sekunde von einem häßlichen Entlein in ein begehrenswertes junges und schönes Weib. So war es auch Ernst Wolf bei ihrer ersten Begegnung gegangen, denn trotz der schlichten Kleidung mit meistens hellgrüner Bluse, die aber bei jeder Bewegung die schöne Form der Brüste – Paula trug grundsätzlich keinen BH – sichtbar machte und den blauen Jeans, die ihre Beine und ihren Po mit jedem Schritt sexuelle Impulse aussenden ließ, bestach die Frau mit der Natürlichkeit ihrer Bewegung.

Der zehn Jahre ältere Mann sah lächelnd seine Mitarbeiterin an, ohne dass diese es bemerkte. Paula sah heute fast genauso lädiert aus, wie vor 20 Jahren, als er sie kennengelernt hatte. Ihre, im Vergleich zu seinen, sehr ähnlichen Auffassungen vom Leben, einschließlich grundsätzlicher politischer Ansichten, hatten zu einer dauerhaften Freundschaft geführt, die in ihrer gemeinsamen Detektivarbeit für Menschen, die vom herrschenden System belogen und betrogen worden sind, ihren Ausdruck fand. Das hatte wohl dafür gesorgt, dass auch aus ihm kein Spießer geworden war.

Der ehemalige Polizist und nunmehr seit über zwanzig Jahren freiberuflich tätige Detektiv Mike Hammer, mit richtigem Namen Ernst Wolf, hatte sich von dem Romanhelden von „Mickey“ Morrison Spillane (4) den Namen geliehen, weil er glaubte, dem ein bisschen zu ähneln. Seine Größe von einem Meter einundneunzig, die schwarzen, immer etwas ungepflegt aussehenden Haare sowie die dunklen grau-blauen Augen sprachen dafür. Wenn er sich außerdem den kleinen Schnurrbart anklebte, per Maske eine künstlich zurechtgemachte, vielleicht etwas übertriebene Boxernase anlegte und dazu noch seinen klassischen Hut aufsetzte, wurde er diesem zum Verwechseln ähnlich. Das Schaffen dieses Aussehens war keine Eitelkeit seinerseits, sondern ein pfiffiger Schachzug. Jedem prägte sich sofort die Mike Hammer Person ein, sodass es ein Leichtes für Wolf war, sich schnell und unauffällig in eine völlig andere Person zu verwandeln. Insbesondere die dann gerade und fast zierliche Nase, der verschwundene Bart sowie der fehlende Hut bewirkten, dass niemand auf die Idee kam, in der neuen Person den Mike Hammer wiedererkennen zu wollen. Das schien schlichtweg unmöglich. Wolf hatte 1963 Abitur gemacht, wurde zum Militär eingezogen, diente noch drei Jahre freiwillig beim Bund und wurde anschließend Polizist. Nach einem katastrophalen Einsatz bei einer Friedensdemonstration kündigte er nach zwei Jahren den Dienst und fuhr drei Jahre zur See. Trotz schlechter Erfahrungen zog es ihn aber wieder hin zur Polizeiarbeit. Er besuchte von 1971-1975 eine Polizeifachhochschule und wurde Kriminalkommissar. Nach zwei Jahren hatte er wieder die Schnauze voll. Er wurde Privatdetektiv.

Wolf schüttelte in Gedanken versunken seinen Kopf. Die Zeiten hatten sich nicht geändert. Genau wegen solcher Polizeieinsätze hatte er den Dienst quittiert.

„Wir müssen uns um die Jungs kümmern, Ernst, sonst knöpft sich die Polizei die beiden noch einmal vor. Und bei ihrem …“

Wolf schreckte aus seinen Gedanken auf. „Was hast du gesagt, Paula?“

„Ich habe Sorge, Ernst, dass meine Retter noch nicht aus dem Schneider sind.“

„Vielleicht nicht nur das.“

„Was willst du damit sagen, Ernst?“

„Ich habe in der Vergangenheit schon erlebt, wie Menschen in ähnlicher Situation von zwielichtigen politischen Organisationen …“

„… eingespannt worden sind?“

Wolf nickte nachdenklich. „Aber wie hat mein Freund, der Seemann Emil Balla, so schön zitiert? ‚Einen Finger kann man brechen. Fünf Finger sind eine Faust. ‘ (1) Dieses Motto paßt doch auch zu uns.“

„Ja. Das klingt gut. Mit Balla, Hossa und Prost sind wir ja auch fünf. Hat Emil sich das ausgedacht, Ernst?“

„Ich glaube nicht, obwohl ich ihm das auch zutraue.“

„Ich werde ihn irgendwann mal selber fragen.“

Beide schwiegen einen Moment, weil ihre Gedanken wohl bei ihrem Freund in den neuen Bundesländern weilten.

Emil Balla, der inzwischen 50-jährige, einen Meter achtzig große, meistens unrasierte Operator mit dunklen, immer ziemlich kurz geschnittenen Haaren hatte nicht nur zwei Jahre bei der NVA gedient, sondern war danach noch drei Jahre auf dem 10.000-Tonnen-Stückgut-Frachter ‚Leipzig‘, der zur Schiffbaureihe Typ IV ‚Frieden‘ gehörte, zur See gefahren. Den von Körper und Statur eher unauffälligen Typ hielten Fremde für einen gutmütigen Idioten, weil der Mann immer in besonders verdreckter Arbeitskleidung herumlief. Außerdem konnte es durchaus vorkommen, dass er laut zu singen begann, wenn ihm danach zumute war, „1000 Mann auf des toten Manns Kiste, ho hoho und ‚ne Buddel voll Rum“, und anschließend auf einem Plasterohr so laut zu trompeten, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Er tat alles, um dieses Bild eines gutmütig-trotteligen Spinners aufrechtzuerhalten. Nur die langjährigen Freunde und Kollegen wussten, dass Balla ein einsatzstarker, intelligenter und fleißiger Anlagenfahrer war, der außerdem über ein beeindruckendes Allgemeinwissen verfügte. Seit 1979 verband Wolf und Balla eine enge Freundschaft, die trotz des Eisernen Vorhangs zustande gekommen war und sich über Jahrzehnte vertieft hatte.

„Aber wie bilden wir nun die Faust für unsere Revoluzzer?“, griff die Peters den ursprünglichen Gedanken wieder auf.

„Vorerst können wir leider gar nichts tun, Paula.“

„Vielleicht kann ich sie an unser Theater binden, dann könnte ich sie wenigstens im Auge behalten.“

„Das ist eine gute Idee, Äpfelchen.“ Wolf lächelte schelmisch seine Partnerin an.

„Ja, ja, lach du nur. Ich weiß schon, dass ich deren Mutter …“

„Du bist eine schöne Frau, Paula!“

„… sein könnte. Aber der Daniel wirkt auf mich geradezu magisch. – Da könnte ich schon … – Ach was. Ich hole die Revoluzzer zu unserer Theatergruppe und werde sie dadurch im Auge behalten können. – Beide.“