Der Bohrarbeiter und die Philosophie

Boberow (Mecklenburg), 12. Juni 1964

„Leute, wir müssen die drei beschädigten Meißel an den Straßenrand holen“, schimpfte Bohrmeister Boge, hüpfte wie Rumpelstilzchen um seine drei Bohrarbeiter herum und fügte dann als Erklärung noch hinzu, „in einer halben Stunde kommt der Transport und da sollen – da müssen! – die mit, verdammt!“

Der dreiunddreißigjährige Erwin Schmiedefeld, dünn wie eine Bohnenstange, mindesten einen Meter neunzig groß, drahtig und zäh runzelte seine braun gebrannte Stirn und schüttelte verständnislos seinen Kopf. „Wieso fährst du die Dinger nicht mit der Planierraupe hierher?“

Der Bohrleiter fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Mensch, das hätte ich doch längst gemacht, Erwin, aber die ist kaputt und die Reparatur dauert zu lange. Verdammte Scheiße!“

Der bullige, muskelbepackte, gegenüber Schmiedefeld zwei Köpfe kleinere Fritz Krause brummte, „dann müssen sie eben erst morgen weggebracht werden.“

„Auf keinen Fall!“, regte sich Boge wieder auf, „wir haben keinen Ersatz mehr. Die müssen heute mit, damit sie schnell repariert werden können.“

In die eingetretene Stille hinein fragte Thomas Prost, „wo liegen denn die Meißel?“

Boge zeigte mit der ausgestreckten rechten Hand über eine aufgewühlte Sandwüste zur anderen Seite der Bohranlage schräg vorbei an dem fünfundvierzig Meter hohen Turm. „Das sind mindestens zweihundert Meter.“

„Und“, Prost hob kurz seine Arme an, „wie schwer ist so ein Meißel?“

Während Schmiedefeld und Krause stirnrunzelnd ihren Kurzzeit-Kollegen ansahen, erklärte Boge gleichmütig. „Na ja, der Tiefbohrmeißel mit seinen drei Rollen aus Hartstahl, die in einem Rohr zusammengeführt werden, wird so seine eineinhalb Zentner wiegen.“

Prost überlegte kurz.

„Das sind also fünfundsiebzig Kilogramm. Die bringt ein achtzig Kilogramm schwerer Sportsmann zur Hochstrecke. – Aber – der Weg ist natürlich ganz schön lang.“

Prosts Kollegen Krause und Schmiedefeld brachen in schallendes Gelächter aus, in das Boge mit eintaktete, als er begriffen hatte, was der zukünftige Student der Verfahrenstechnik da gerade von sich gegeben hatte.

Thomas Prost war am 30. 4. 1964, nach zwei Jahren und acht Monaten Dienstzeit, ehrenvoll aus den Reihen der NVA mit dem Dienstgrad Unteroffizier entlassen worden. Sein Studium der Verfahrenstechnik an der TH in Merseburg begann aber erst am 1. September. Deshalb fackelte er nicht lange und sah sich, zur sinnvollen Überbrückung dieser Zeit, nach einer Arbeit um. Als ihm sein Vater von den Erdölbohrarbeiten erzählte, bewarb er sich sofort bei der Firma als Kraftfahrer. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass eine Arbeit als Kraftfahrer nicht möglich wäre, ihm aber ein Job als Bohrarbeiter angeboten werden kann, sagte er sofort zu. Prost liebte schwere Arbeiten, das war schon während seiner Kindheit in einem kleinen altmärkischen Dorf so gewesen. Bei der Armee hatte er sich aus eigenem Antrieb fit gehalten, sonst wäre er dort dick und fett geworden. Prost war deshalb heute immer noch gut in Form und seine Worte keineswegs nur so daher gesprochen. Er wartete geduldig bis seine Kollegen aufgehört hatten zu lachen.

„Erwin, wenn ich mit dem ersten Meißel hundert Meter geschafft habe, kümmerst du dich dann um den Zweiten?“

Schmiedefeld überlegte. Er konnte den schlaksigen Jüngling von Anfang an gut leiden, weil der richtig derb zupacken konnte, einem eher die Arbeit wegnahm, als sie einem zuschob und man konnte kluge Gespräche mit ihm führen. Er verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln, weil er sich an ihre philosophischen Gespräche der letzten Tage erinnerte. Vor Beginn einer Frühschicht hatte Thomas Prost zu ihm gesagt, „weißt du Erwin wie ungeschickt ich mich am Anfang hier auf dem Bohrturm angestellt habe?“ er drehte den Kopf zu seinem Kollegen, sah dass der ihm aufmerksam zuhörte und fuhr lächelnd fort, „ich habe anfangs zehnmal so viel Kraft gebraucht, als ich das jetzt muss. Damals war ich zum Feierabend total geschafft, jetzt komme ich nicht mal mehr ins Schwitzen,“ wieder sah er seinem Kumpel Erwin in die Augen, aber der lauschte nach wie vor seinen Worten, „jetzt kenne ich alle Handgriffe, benutze sie effektiv, genau mit der richtigen Kraftaufwendung. Ist doch interessant, Erwin? Oder?“

„‘Das Umschlagen von Quantität in Qualität‘,“ antwortete der trocken, so dass Prost verblüfft schwieg.

„Erstes dialektisches Grundgesetz,“ fügte Erwin grinsend hinzu. Schmiedefeld machte dieses Gespräche Spaß. Der Junge hörte einem richtig zu, antwortete kurz, präzise und er besaß Humor. Menschen ohne Humor strengten Erwin zu sehr an. Behauptete er zumindest von sich.

„Na mach’ mal, Thomas,“ sagte Schmiedefeld, „dann sehen wir weiter.“

Sie gingen beide in die vom Bohrleiter gezeigte Richtung. Als Thomas sich zu dem ersten Meißel hinunter beugte, um fürs Tragen den besten Griff zu finden, bemerkte er, dass auch Krause mitgekommen war. Prost griff in die Aushöhlungen, in denen sich die wie Kegelräder geformten Kreisel befanden, hob den Meißel kurz an und setzt ihn wieder ab.

„Na, wohl doch zu schwer, du Angeber?“ Krause grinste breit.

Prost ließ sich nicht stören, griff erneut zu, hob den Meißel jetzt noch ein Stück höher, sodass er genug Bewegungsfreiheit für seine Beine hatte, sein Schoß konnte auf die Art ein wenig beim Tragen helfen.  Der junge Mann watschelte ziemlich zügig  los. Krause sah ihm mit verbissenem Gesicht hinterher, während Erwin lächelte.

Als Schmiedefeld sah, dass sein Freund nicht so schnell schlappmachen würde, beugte er sich zum zweiten Meißel nach unten, hob ihn an und – watschelte – genau wie Prost, nur dass das bei Erwin noch komischer aussah, hinter seinem Kollegen hinterher. Aber komisch oder nicht, das war Erwin egal und außerdem hatten sie ja sowieso nur einen Zuschauer, den Bohrleiter. Der drückte die Fäuste fest zusammen, als könnte er auf diese Art beim Tragen mithelfen. Er hoffte inständig, dass die Männer die Strecke tatsächlich schaffen würden.

Erwin dachte trotz der Anstrengung erneut an das interessante Gespräch mit seinem jungen Freund. Nach Schichtende hatten die beiden ihre Debatte über Dialektik fortgesetzt.

„Woher weißt du das Erwin?“ fragte Prost seinen sympathischen Kollegen.

Schmiedefeld schwieg. Bis zu diesem Gespräch über Philosophie mit Prost, wusste niemand, dass er nach seinem Abi auf der ABF 1953, danach zwei Jahre in Halle an der MLU Philosophie studiert hatte.

„Ich sehe, Thomas, dass du noch andere Fragen auf der Zunge hast. Spuck sie aus.“

„Aber dann klärst du mich auf?“

„Über Sex rede ich auch gerne, obwohl…“

„Wieso Sex?“ stellte Prost sich dumm.

„Rousseau, Diderot und Madam Pompadou. Ja, ja, das 18. Jahrhundert, die Epoche der Aufklärung, war auch sehr interessant.“

„Na gut Herr Professor, hast du auch ein Beispiel für den Kampf und die Einheit der Widersprüche?“

„Du hast es doch selbst schon gesagt. Denk nach.“

„Du meinst,“ Prost zögerte, „du meinst meine Veränderung hier bei Euch?“

„Genau Scholar,“ erneut grinste er, „Bewegung ist die notwendige Triebkraft für Veränderung, Entwicklung. Ein Wesen ist in jedem Augenblick dasselbe und doch ein anderes.“

Erwin ergötzte sich an seinem, aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommenden Kollegen und Freund.

Genau auf der Mitte des Weges ließ Prost den Meißel fallen und streckte sich. Kurz hinter ihm traf Schmiedefeld ein, warf seinen Meißel ebenso in den Sand und schnaufte.

„Du bist eine kaputte Type, Prost, aber“, er zeigte mit der Hand zurück, „du hast Erfolg.“

Tatsächlich hatte sich Krause den dritten Meißel geschnappt und kam nun auf sie zu. Seinen Gang mit dem Meißel konnte man schon fast Laufen nennen. Der bullige Kerl machte das noch besser als die zwei vor ihm.

Krause schmiss seinen Meißel ebenfalls hin und schnauzte, „Prost, du bist ein Arschloch! – Aber stark. – Das hätte ich nicht gedacht.“

Dieses Lob ging Thomas tief unter die Haut, aber er sagte nichts, sondern stellte sich wieder vor seinen Meißel, ging in die Knie, hob das schwere Teil wieder an – ihm war so, als wäre es leichter geworden – und watschelte weiter. Erwin folgte ihm, seinen Gedankengang fortsetzend, auf dem Fuße.

„Hast du etwa auch studiert Erwin?“ Prosts Blick zu Schmiedefeld unterstrich seine Fragestellung. „Warum verheimlichst du das? Und überhaupt, warum arbeitest du dann hier?“

„Ich habe nur zwei Jahre Philosophie an der Uni Halle studiert.“ Schmiedefeld machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist alles.“

„Dann hast du Abitur?“

„ABF, auch in Halle.“

„Warum hast du aufgehört?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ja unbedingt.“

„Mann, ich weiß es doch selber nicht.“

Die beiden schwiegen.

„Was ist jetzt mit dem 3. Dialektischen Grundgesetz,“ unterbrach Prost die Stille, „die Negation der Negation?“

„Das ist doch am einfachsten, Thomas.“

„Ich finde das am verworrensten.“

„Du liebst doch Mathe, hast du mir erzählt. Du musst nur richtig nachdenken, dann siehst du, wie einfach das ist.“

Prost grübelte ein zwei Minuten schweigend, bevor er weitersprach. „Ein positive Zahl wird negativ, wenn ich sie mit einer negativen multipliziere. – Ja, ist das die Negation?“

Schmiedefeld schwieg grinsend.

„Oh, ich glaube, jetzt geht mir ein Licht auf, denn wenn ich die negative Zahl nun mit einer weiteren negativen multipliziere, wird das Ergebnis positiv.“ Über Prosts Gesicht lief ein erstauntes, etwas ungläubiges grinsen. „Das ist dann wohl die Negation der Negation Erwin? Minus mal Minus ergibt Plus?“

„Das Verschwinden der alten Qualität, also Negation, ist verbunden mit ihrem Wiederauferstehen, der doppelten Negation, in einer neuen Qualität.“

Als sich Prost mit seinem Meißel dem Straßenrand näherte, fuhr dort der LKW vor und er ließ seinen Meißel dicht am Fahrzeug, zu Boden gleiten. Nur wenig später trafen auch Schmiedefeld und Krause ein, die sich genauso erleichtert von ihrer Last befreiten.

Boge tanzte freudig um die drei herum. „Mensch Leute, das ist ja wunderbar. Damit habt ihr einen Verzug beim Vortrieb der Bohrung verhindert.“

„Quatsch nicht so viel, Boge, rück lieber mit `ner Prämie raus“, brummte Krause und Schmiedefeld fügte grinsend hinzu, „die Idee solltest zu festhalten, Bohrleiter.“

Boge lachte. „Da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Natürlich kriegt ihr eine Prämie. Aber außerdem gibt es ja Bohr-Geld pro Meter Tiefe, und da wir nun nicht in Verzug kommen werden, gibt es auch mehr von dieser Prämie.“

Die Aktion der drei sprach sich schnell unter den Kollegen der anderen Schichten der Bohranlage herum und der angehende Student merkte von diesem Tage an, dass er sich den Respekt der 18 Bohrarbeiter erworben hatte.